Epidemie
Vor 85 Jahren brach am Hochrhein Polio aus: Wie zwei Laufenburger trotz Kinderlähmung ihren Weg machten

Durch eine Krankheit von Schmerzen geplagt und in ihrer Bewegung stark eingeschränkt, meisterten Bäcker- und Konditormeister Rolf Maier und Konzertmeister Winfried Müller ihr Schicksal mit Bravour. Historiker Franz Schwendemann berichtet.

Franz Schwendemann
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Rolf Maier aus Laufenburg erwarb trotz Kinderlähmung den Meistertitel zum Bäcker und Konditor.

Rolf Maier aus Laufenburg erwarb trotz Kinderlähmung den Meistertitel zum Bäcker und Konditor.

Bild: Franz Schwendemann

Rolf Maier, Bäcker- und Konditormeister aus Laufenburg, wurde ein Jahr vor dem erneuten Ausbruch einer Polio-Epidemie im Hochrheingebiet im November 1935 geboren. Da er sich als Kleinkind häufig mit Angina plagte, entschlossen sich seine Eltern zu einer Mandel-OP im Clara-Spital Basel. Wie er selber erzählt, habe er mit vier Jahren, im Jahr 1939, beim Klinik-Aufenthalt in Basel, die Kinderlähmung «aufgelesen». Nach heftigem Fieber war seine linke ­Seite gelähmt. Sein linker Unterschenkel war betroffen, das Bein blieb kürzer. Das Kind wurde zum Invaliden.

Auf die Polio-Epidemie reagierte 1939 die in Laufenburg stationierte Grenzkompanie des Schweizer Militärs, trotz Kriegsbeginn in Deutschland, als erste, während die politische Gemeinde und der Kanton keinen Alarm schlugen. Für die Soldaten, die in Laufenburg stationiert waren, gab es aufgrund des Ausbruchs im Hause Maier Urlaubssperre und keinen Ausgang in Laufenburg.

Notbehandlungen über viele Jahre sind nötig

Da noch keine Arzneimittel und Impfstoffe in der Schweiz und weltweit vorhanden waren, musste Rolf Maier jahrelang durch medizinische Notbehandlungen gehen. Er erhielt Schmerzmittel und entzündungshemmende Arznei, da keine antivirale Therapie existierte. Die heute vorgeschriebene Isolierung des Kindes, um pflegende Angehörige und Pflegekräfte vor einer Infektion zu schützen, fand nicht statt.

Während dreier Jahre erhielt Rolf Maier auf ärztliche Anweisung für sein linkes Bein eine Schiene, und der Laufenburger Coiffeur gab ihm bis zum zwölften Lebensjahr Massagen. Eine Operation in Zürich brachte kaum Linderung, geschweige denn Heilung. Er erhielt zur Nachbehandlung Krankengymnastik, und mit orthopädischen Schuhen und Einlagen konnte eine Verbesserung seiner Beweglichkeit erreicht werden.

Trotz Polio zum Meistertitel als Bäcker und Konditor

Statt zum Militär einzurücken, musste Rolf Maier zum Zivilschutz. Im familieneigenen Café konnte er im Service arbeiten. In Zürich erhielt er die
Ausbildung und konnte den Meistertitel als Bäcker und Konditor erwerben. Seine Wohngemeinde gab ihm die Erlaubnis, sein Auto auf einem Behinderten-Parkplatz abzustellen. Heute ist Rolf Maier im aktiven Ruhestand. Seine Söhne und Enkel leiten eine Bäckerei und Café-Kette mit über 170 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

Winfried Müller, 1932 geboren, wurde mit dreieinhalb Jahren in Laufenburg von der Infektionskrankheit spinale Kinderlähmung befallen und war sein Leben lang knieabwärts an beiden Beinen gelähmt. Die Gehfähigkeit war ihm genommen. Er konnte die Schule in Laufenburg nicht besuchen und wurde von seiner Mutter zu Hause unterrichtet.

Erst ein Jahr nach der Währungsreform waren seine Eltern in der Lage, ihrem schwerstbehinderten Sohn einen Rollstuhl zu erwerben. Damit erweiterte sich seine Beweglichkeit beträchtlich, obwohl das bergige Laufenburg keine gute Adresse für Rollstuhlfahrer war.

Auch der Milchmann ­musste draussen bleiben

Ab dem sechsten Lebensjahr wurde ihm zu Hause im Pfarrhaus auch Klavierunterricht ermöglicht. Bald musste und konnte er die monatlichen Kaffeegesellschaften seiner Mutter mit den Fortschritten am Klavier, auch ohne Pedal, unterhalten. Emma Müller, seine Mutter, wehrte sich mit aller Macht dagegen, dass die Familie eine ansteckende – damals noch nicht per Impfung frühzeitig behandelbare Krankheit – im Pfarrhaus hat. Sie sprach vor Bekannten immer von der «Englischen Krankheit», unter der ihr Sohn leiden würde. Diese Englische Krankheit war die in den 1930er- Jahren grassierende, nicht ansteckende Krankheit Rachitis.

Die Behörden reagierten jedoch konsequent: Auf Anweisung des Gesundheitsamtes Säckingen und des Rathauses Laufenburg durfte das Pfarrhaus nicht mehr besucht werden. Die Quarantäne musste auch Milchmann Blum aus der Schweiz befolgen. Ihm wurde auf einem Zettel, der mit der Milchkanne an einem Fensterladen befestigt war, täglich die Milchmenge bekannt gegeben, welche die Pfarrerfamilie benötigte.

Er macht das Klavierexamen ohne Pedealbenutzung

Winfried Müller durfte zu Beginn der 50er-Jahre an der Musikhochschule Freiburg sein Diplomexamen als Musiklehrer ablegen. Aufgrund seiner Lähmung wurde ihm gestattet, das Klavierexamen ohne Pedalbenutzung zu erwerben. Während seines Studiums lernte er seine spätere Frau, die Musikstudentin Helga Klein, kennen, die er nach dem erfolgreichen Studienabschluss heiratete. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor.

Seine Heimatpfarrei Laufenburg schuf eine auf ihn zugeschnittene Kirchenmusikerstelle als Kantor und Organist. Er genoss bald einen weit über Laufenburg hinaus reichenden, pädagogischen Ruf als Klavier- und Orgellehrer, Konzertmeister und Chorleiter. Er dirigierte den evangelischen Kirchenchor und ging erfolgreich das Wagnis ein, Musikbegeisterte aus dem ganzen Hochrheingebiet um sich zu scharen.

Vom Bundespräsidenten ausgezeichnet

Höhepunkt seines Schaffens war das Weihnachtskonzert des Michael-Praetorius-Kreises mit Winfried Müller als Konzertmeister und als Solist am Spinett und am Barockfagott. Am Neujahrstag 1972 fand das Konzert mit dem Bundespräsidenten Gustav Heinemann, seinem Freund, dem evangelischen Theologen Professor Helmut Gollwitzer und weiteren geladenen Gästen statt.

1982 wurde Winfried Müller auf Antrag seiner Heimatstadt Laufenburg und des Landkreises Waldshut von Bundespräsident Karl Carstens das Bundesverdienstkreuz erster Klasse verliehen. Winfried Müller starb 2011 in Laufenburg.