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An den Fricktaler Gemeindeversammlungen nehmen im Schnitt nur 6 Prozent teil – Betroffenheitspolitik macht die Runde.
Kuck mal, wer da schweigt: Nur gerade 6,01 Prozent der Stimmberechtigten nahmen im letzten November an einer der 32 Gemeindeversammlungen im Fricktal teil. Dies zeigt eine Berechnung der AZ. Anders formuliert: 94 Prozent scherten sich um ihr politisches Recht. Bei der nächsten Gemeindeversammlungs-Runde, die übernächste Woche losgeht, wird es nicht viel anders sein.
Die Schwankungen sind dabei enorm: Während in Rheinfelden gerade einmal 1,87 Prozent der Stimmberechtigten den Weg in den Bahnhofsaal fanden, nahm in Hornussen jeder fünfte an der Gmeind teil. Der Blick auf die Teilnahme-Quote zeigt dabei zweierlei: Erstens nehmen in den grossen Gemeinden prozentual weniger Stimmberechtigte teil; am Schluss der Rangliste liegen mit Möhlin und Rheinfelden die beiden grössten Gemeinden im Fricktal.
Zweitens hängt die Quote stark von den traktandierten Geschäften ab. In Hornussen, das im November mit Abstand die höchste Quote hatte, stand Tempo 30 zur Debatte – ein Thema, das immer bewegt. In Oeschgen war es die Schule; auch dieses Thema ist ein zuverlässiger Quotenbringer. Michael Widmer, Gemeindeschreiber von Frick, bringt es mit einem Augenzwinkern auf den Punkt: «Will man eine gut besuchte Gemeindeversammlung haben, so ist die Einführung von Tempo 30 ein Rezept dafür.»
Generell gilt: «Bei Themen, welche die Teilnehmer direkt betreffen, ist das Interesse grösser», hat Roger Rehmann, Gemeindeschreiber in Kaiseraugst, festgestellt. Auch Marco Waser, Schreiber in Laufenburg, spricht von einem «sehr hohen Einfluss», welchen die Art der Geschäfte auf die Einschaltquote haben. «Bei brisanten Themen wird vorgängig der Versammlung durch die Parteien lobbyiert, weshalb teilweise doppelt so viele Stimmberechtigte als üblich anwesend waren.» Michael Widmer spricht von einem «positiven Einfluss auf die Stimmbeteiligung», wenn Projekte, von denen Vereine profitieren, anstehen. «In den letzten Jahren hat sich auch gezeigt, dass die Leute Einfluss auf die weitere raumplanerische Entwicklung in ihrer Gemeinde nehmen wollen», hat er beobachtet. Davon seien besonders Gemeinden, die ein starkes Wachstum hinter sich haben, betroffen. Schliesslich gebe es auch regelmässig «aktive Quartierbewohner, die sich bei bestimmten Strassenplanungen gemeinsam einbringen».
Gut besucht werden also Gemeindeversammlungen, darin stimmen alle befragten Gemeindeschreiber überein, wenn Bewohner direkt von den Entscheiden betroffen sind. Marius Fricker, Gemeindeschreiber in Möhlin, spricht gar von einer Tendenz zur Betroffenheitspolitik. «In Möhlin sind Themen bezüglich Raumplanung offenbar sehr populär beziehungsweise umstritten», sagt er.
Gerade wenn Geschäfte Vereine, Clubs und andere Gruppierungen betreffen, ist der Aufmarsch aus diesen Lagern gross; man trifft dann nicht selten Stimmbürger, die man sonst nie an einer Gemeindeversammlung sieht. Als störend oder gar als Missbrauch empfindet das keiner der befragten Gemeindeschreiber. «Es ist legitim, dass eine Gruppierung ihre Anliegen mittels demokratischen Mitteln durchsetzt», sagt Roger Rehmann. Zudem hätten, so Marius Fricker, Gegner und Befürworter gleichermassen die Möglichkeit, zu mobilisieren. Fricker spricht vom «Part of the game». Wenn beispielsweise über den Fussballplatz abgestimmt werde, sei es ja kein Geheimnis, dass bei einem solchen Traktandum die Mitglieder des Fussballclubs an die Versammlung gingen, sagt Michael Widmer. «Von daher könnten mögliche Gegner grundsätzlich auch entsprechend dagegen mobilisieren.»
Urs Treier, Gemeindeschreiber in Gipf-Oberfrick, erinnert daran, dass «alleine schon die Möglichkeit zu haben, seine Meinung kundzutun, Gleichgesinnte zu mobilisieren und damit einen gewünschten Entscheid zu beeinflussen, ein höchst wertvolles politisches Gut ist und den wenigsten Menschen auf dieser Welt zur Verfügung steht». Für Sascha Roth, Gemeindeschreiber in Stein, ist klar: «Eigeninteressen wird es immer geben.» Das Referendum stelle in einem solchen Fall «ein geeignetes Mittel für eine Korrektur durch die Gesamtstimmberechtigten» dar. Denn der Fall, dass die Gemeindeversammlung das Quorum erreicht, um einen Beschluss abschliessend zu fassen, tritt fast nie ein.
Das Referendum wird indes nur selten ergriffen – für die befragten Gemeindeschreiber auch ein Zeichen dafür, dass die (schweigende) Mehrheit mit den Entscheiden einverstanden ist. «Es hat sich in unserer Gemeinde in den letzten Jahren in mehreren Fällen gezeigt, dass bei knappen oder umstrittenen Entscheiden das Referendum ein gutes Mittel ist, um über das Thema alle Stimmbürgerinnen und Stimmbürger an der Urne befinden zu lassen», hat Urs Treier beobachtet. Er ist überzeugt: «Ein Referendum ist gerade auf kommunaler Ebene der Beweis für eine gelebte Demokratie.» Zudem: «Da lediglich ein Zehntel der Stimmberechtigten für ein Referendum benötigt wird, können Entscheide von einer Überraschungsmehrheit wieder entkräftet werden», sagt Marco Waser. Für ihn stellt das Referendum einen «Grundpfeiler des schweizerischen Systems» dar.
Michael Widmer sieht auch einen Zusammenhang zwischen Referendum und Art des Geschäftes: «Erfahrungsgemäss wird das Referendum eher bei umstrittenen Geschäften wie beispielsweise der Einführung von Tempo 30 ergriffen als bei Vorlagen für Projekte, die vor allem bestimmten Vereinen dienen.» Der Grund dafür dürfte laut Widmer darin liegen, dass es den Leuten einfacher falle, sich gegen ein Verkehrsprojekt der Gemeinde zur Wehr zu setzen, als gegen eine Vorlage zugunsten von Vereinen. «Niemand möchte im Dorf als Vereinsgegner wahrgenommen werden.»
Lesen Sie morgen: Weshalb nur so wenige an der Gemeindeversammlung teilnehmen – und was dagegen getan werden kann.