Ueken
Die Frau ohne Schuhe - Ursula Kahi geht barfuss durch das Leben

Ursula Kahi läuft seit drei Monaten barfuss durch den Alltag. Bei Wind und Wetter. Weshalb tut sie das? Eine Spurensuche

Thomas Wehrli
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«Den Füssen schenken wir viel zu wenig Aufmerksamkeit»: Ursula Kahi ist barfuss unterwegs.

«Den Füssen schenken wir viel zu wenig Aufmerksamkeit»: Ursula Kahi ist barfuss unterwegs.

Thomas Wehrli

Der Blick, den die ältere Dame Ursula Kahi im Vorbeigehen zuwirft, kann zweierlei bedeuten. Erstens: Was soll das? Zweitens: Was soll das!

Ursula Kahi, 49, studierte Germanistin, Autorin, «schreibender Mensch», wie sie sich auf ihrer Website nennt, lacht. Solche Reaktionen erlebt sie häufig, seit sie barfuss unterwegs ist. Und das ist sie fast immer: Die Stunden, in denen ihre Füsse schwarz sehen, weil sie ummantelt sind, «lassen sich an einer Hand abzählen», sagt Kahi. Ganz egal, ob es regnet oder schneit, ganz egal, ob es kalt ist oder heiss – Kahi ist unten ohne unterwegs.

Ursula Kahi trägt nur noch in Lebensmittelgeschäften, Restaurants und im Stall Schuhe.

Ursula Kahi trägt nur noch in Lebensmittelgeschäften, Restaurants und im Stall Schuhe.

AZ

Die Hände vors Gesicht geschlagen hat zwar noch niemand, wenn er ihr auf der Strasse begegnet ist, doch zu einer Reaktion führt ihr Anblick, nein: der Fussblick alleweil. Die Gesichtsausdrücke pflegen irgendwo zwischen Staunen, Fassungslosigkeit, Amüsement, Zustimmung und Besorgnis zu mäandern.

Eine Korrelation mit dem jeweiligen Wetter ist dabei unverkennbar. Ist es schön und warm, fällt ihre Schuhelosigkeit wenigen auf. Ist es kalt, erntet sie besorgte Blicke, die zu sagen scheinen: «Sie werden noch krank!» Regnet es, überwiegt die fragend-verständnislose Mimik. Erst recht dann, wenn Kahi mitten durch eine Pfütze läuft, was sie gerne tut, «denn das Gefühl durch Wasser zu gehen, ist sehr angenehm.»

Ob mit oder ohne Wasser – eine Frage steht auf fast allen Gesichtern geschrieben: Warum, bloss, macht sie das?

Ja, warum? «Weil es mir guttut», sagt Kahi. «Weil ich mich fitter und gesünder fühle, seit ich keine Schuhe mehr trage.» Kahi ist in ihrem Element. Man trete anders auf, erklärt sie, das verbessere die Körperhaltung. Auch die Durchblutung der Füsse sei deutlich besser. Sie lacht. «Früher war ich ein grosses Gfrörli und trug selbst im Bett Socken. Heute muss ich die Füsse unter der Bettdecke hervorstrecken, da ich sonst zu warm habe.»

Immer eine Apotheke dabei

Es sei ein herrliches Gefühl, die Welt barfuss zu erkunden, sagt sie, nur eines stört sie: «Dass man es sieht.» Denn anders als Steve Jobs, barfusslaufender Apple-Guru, will Kahi nicht auffallen, geschweige denn provozieren. «Ich bin aufgewachsen nach der Prämisse: Ja nicht auffallen», erzählt sie. «Deshalb kostete es mich am Anfang Überwindung, ohne Schuhe in die Öffentlichkeit zu gehen.» Anders als dereinst Jobs schlüpft sie deshalb in Schuhe, wenn sie an Meetings geht – oder fragt zumindest, ob es jemanden stört, wenn sie barfuss kommt.

Besonders hoch ist der Ich-fühle-mich-gestört-Faktor, man kann auch sagen: Besonders heftig rümpfen andere in Restaurants die Nase, wenn sie barfuss hereinkommt. «Deshalb habe ich angefangen, die Schuhe anzuziehen, wenn ich ein Restaurant betrete.» Dabei hat sie ohnehin immer ein Paar – zusammen mit einem Handtuch, um die Füsse zu trocknen, wenn es regnet, einem Pack Feuchttüchlein, um die Füsse bei Bedarf zu reinigen, sowie einer Apotheke. «Für den Fall der Fälle», sagt sie, fügt an, dass dieser Fall bis jetzt noch nie eingetreten sei.

Bis jetzt, das sind drei Monate, in denen Kahi, die in Ueken lebt, barfuss unterwegs ist. Den Anstoss zur Barfüssigkeit gab das Buch «Auf freiem Fuss» von Sabrina Fox, das sie im Februar gelesen hatte. Sofort war ihr klar: Das ist mein Weg. Diesen wird sie nun auch weitergehen, der Sommer sei ja die Barfuss-Zeit schlechthin. Und im Winter? «Das lasse ich mir offen», sagt sie. Das Barfuss-Laufen soll nicht zu einer Obsession werden. «Ich laufe so lange barfuss, wie es für mich stimmt.»

Aus dem Blick lässt sie dabei auch die anderen nicht, weshalb sie neben den Restaurants auch die Lebensmittelläden beschuht betritt. «Ich habe keine Lust auf Konfrontation.»

Noch einen dritten Ort gibt es, an dem sie freiwillig Schuhe trägt. Im Stall, bei den Pferden. «Zum einen habe ich keine Lust darauf, dass mir 500 Kilo Pferd auf die blossen Zehen stehen.» Zum anderen sei es eine Frage der Hygiene. Letztere hinterfragen viele, wenn sie Kahi barfuss durch Pfützen und Schneematsch gehen sehen. «Wer barfuss läuft, muss seine Füsse pflegen», entgegnet Kahi, stockt kurz und fügt an: «Das sollte auch jeder, der Schuhe trägt. Den Füssen schenken wir viel zu wenig Aufmerksamkeit.» Sie wasche die Füsse mindestens viermal pro Tag, immer dann, wenn sie von draussen hereinkomme. Und, nein, sie habe noch nie eine Infektion oder einen Fusspilz aufgelesen. «Das hat man selber in der Hand», man kann auch sagen: am Fuss.

Das Fuss-Erwachen

Für den Fuss ist derweil nicht jeder Strassenbelag gleich angenehm. «Frick ist deutlich weniger fussschmeichelnd als Aarau», weiss sie, blickt vom Café Kunz, wo wir uns treffen, die Hauptstrasse hinunter. «Die Brücke da vorne über den Bruggbach beispielsweise hat es in sich», sagt sie. «Sie zu überqueren, hatte am Anfang fakirähnliche Züge.»

Besonders fuss-genehm sind Kopfsteinpflaster, runde Kiesel – und natürlich Gras. «Wenn man am Morgen über eine feuchte Wiese geht, wird man auf angenehme Weise wach», erzählt Kahi. In die Kategorie «unangenehm-piekend» fallen derweil Splitt und Mergel.

Das Barfusslaufen beschert Kahi neben fragend-kritischen auch viele neugierige Blicke. Und Stimmen. «Einmal fragte ein Mädchen seine Mutter, ob ich eine Indianerin sei», erzählt Kahi schmunzelnd. Generell gilt: «Männer finden das Barfusslaufen eher cool, Frauen eher grusig.»

Kahi ist sich bewusst, dass nicht jeder einen Alltag hat, den er barfuss durchqueren kann. «Als freischaffende Autorin habe ich ein Privileg», sagt sie, die jüngst das Buch «111 Orte im Aargau, die man gesehen haben muss», herausgegeben hat. Mit oder ohne Schuhe.