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Am 1. April werden die ersten Bewohner in die Demenzstation der Klostermatte einziehen. 14 Betten stehen zur Verfügung. Braucht es geschlossene Demenz Stationen? Eine Spurensuche.
Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. «Schön, dass du da bist.» – «Wollen wir an die frische Luft? Eine rauchen?» – «Ja», sagen ihre Lippen, «was für eine dumme Frage», ihre Mimik. Sie sagts, steht auf, schlüpft in den Mantel, hakt bei mir ein und tapst mit kleinen Schritten in Richtung jener Türe, die das «Stöckli» von der Aussenwelt trennt, die Demente von der (scheinbar) normalen Welt abgrenzt.
Die «Stöckli»-Tür im Alterszentrum Bruggbach in Frick lässt sich ohne Schlüssel nur von aussen öffnen. Von innen bildet sie den Endpunkt der kleinen Welt in der Welt. «Zum Schutz der Bewohner», sagte mir eine Pflegerin bei meinem ersten Besuch. Zum Schutz vor dem Sich-Verlieren in einer Welt, die nicht mehr greifbar ist, die davonfliesst, immer mehr, immer schneller, einer Welt, die mäandert zwischen Gestern und Heute, zwischen Erinnern und Vergessen.
Wobei das Vergessen laufend mehr wird, die Erinnerungen zusehends verblassen, so wie es eine alte Fotografie tut, bis nur noch jene Reminiszenzen greifbar sind, die weit zurückliegen, im Jugendalter, zuerst, in der frühen Kindheit, am Schluss. Der Geist erlischt und lässt den Körper zurück. Irgendwann, das bin ich mir bewusst, kann das Vergessen auch mich einschliessen. Irgendwann kann die Frage kommen: «Wer bist du?» Noch ist es nicht so weit.
Die Demenz werde zur «grössten medizinischen Herausforderung», schrieb die «Schweiz am Sonntag» vor zwei Tagen, die Zahl der Betroffenen werde von aktuell 135 000 auf 300 000 im Jahr 2050 steigen. Schuld daran ist der demografische Wandel, die zunehmende Alterung. Der Preis für das längere Leben.
Andre Rotzetter, Geschäftsführer des Vereins für Altersbetreuung im Oberen Fricktal (VAOF), der in Frick und Laufenburg zwei Alterszentren führt, mag an diese Zahlen nicht so recht glauben. «In der Alterspolitik treffen Prognosen selten so dramatisch ein, wie sie gemacht werden.» Denn zum einen arbeite die Pharmaindustrie mit Hochdruck an Medikamenten, um den geistigen Zerfall zu stoppen oder zumindest zu verlangsamen.
Zweitens hält er die Prognose, dass die Schweizer immer älter werden, für gewagt. «Die Generation, die jetzt im Seniorenalter ist, lebte recht gesund. Die Nächste tut dies schon deutlich weniger.» Das werde sich auf die Lebenserwartung auswirken. Drittens stellt sich für ihn die Frage, wie man als Gesellschaft mit dem geistigen Zerfall umgeht. «Was, wenn Exit eine Option wird?»
Das heisst aber nicht, dass der VAOF die Demenzerkrankungen nicht ernst nimmt, im Gegenteil. Am 1. April eröffnet der Verein im Alterszentrum Klostermatte in Laufenburg eine Demenzabteilung mit 14 Plätzen. In Frick betreibt er mit dem «Stöckli« bereits seit 2011 eine Demenzstation mit 12 Betten.
Wie viele Bewohner mit einer Demenzerkrankung effektiv in den beiden Alterszentren leben, lässt sich nicht genau eruieren, denn Demenz ist kein Schalter im Kopf, der irgendwann umgelegt wird, sondern es ist ein schleichender Prozess mit vielen Graustufen. Entsprechend macht auch nicht für jeden das Gleiche Sinn.
Ein Demenzkranker, der gut in den normalen Heimalltag integriert ist, dem es hier wohl ist, gehört nicht per se in den «geschützten Bereich», wie Heinz Stucki, Leiter des Alterszentrums Klostermatte, seine neue Demenzabteilung nennt. Hier kann die Integration in die «normale» Abteilung mehr Sinn machen.
Bedingung dafür ist einerseits, dass der demente Bewohner die anderen Pensionäre mit seinem Bewegungsdrang, der von seinem Krankheitsbild her gewaltig sein kann, der ihn bisweilen bis zur Erschöpfung herumlaufen lässt, nicht überfährt. Zweitens muss er in der zwischenmenschlichen Begegnung die gesellschaftlich geforderte «Individualdistanz» einhalten und darf nicht einfach ins Zimmer der anderen trampen. «Das führt sonst unweigerlich zu Spannungen», weiss Dirk Kerst, der seit fünf Jahren in der Klostermatte arbeitet und die neue Demenzstation leiten wird.
Den Menschen, die sich im normalen Lebenskontext nicht mehr zurechtfinden, die verwirrt sind, die das Gestern für das Heute halten und mit aller Kraft in dieses scheinbare Heute zurückwollen, kann der geschützte Bereich Halt geben. Schutz auch, vor sich und der Welt. Hier kann, das ist das Zentrale, jedem in seiner Welt begegnet werden. «Wir respektieren die Sichtweise der Realität jedes Bewohners», sagt Kerst.
Sie bildet die Basis, auf der gearbeitet wird. Will ein ehemaliger Bauer beispielsweise immer um 17 Uhr in den Stall, redet man ihm das nicht einfach aus, sondern arbeitet mit ihm, zeigt ihm: Es ist 17 Uhr, aber der Sohn macht den Stall. «Wir müssen jeden in dem Lebensalter nehmen, in dem er sich gerade aufhält», sagt Kerst. Das Schlimmste für einen Demenzkranken ist es, wenn ihm jemand nur in der Realität begegnet. Dann verliert er seine Welt, verliert sich.
Möglich ist dieses intensive Arbeiten, ist dieses Sich-in-Bezug-Setzen, weil die Betreuung in der Demenzstation viel direkter ist: Auf die 14 Bewohner kommen 11,7 Pflegestellen – fast doppelt so viele wie in einer normalen Pflegeheimabteilung. Sie braucht es, um jeden Einzelnen bei sich abzuholen, ihn zu fördern und in seiner Realität, wie und wo diese auch immer ist, zu fordern.
Die Zigarette ist längst erloschen. Es ist ein guter Tag, einer, in der das Sich-Erinnern leichter fällt, einer, in der sich die Umlaufbahnen unserer Gedanken immer wieder kreuzen, einer, in dem das Gestern oft das gemeinsame Heute ist.