Seit September 2016 rollt der Verkehr über die neue Brücke. Am Wochenende wurde sie jetzt auch noch richtig eingeweiht.
Auf einem 62 Meter langen Seil balancierte der weltberühmte Hochseilartist Freddy Nock vom Flussufer beim Reusspark in Niederwil zur neuen Brücke.
Ein paar Meter vor dem Ziel hob er eine an einer Schnur am Laufseil hängende Champagnerflasche auf und versetzte sie in Schwung. Unter dem riesigen Jubel der zahlreichen Schaulustigen zerschellte die Flasche an der Brücke. Somit war der Reussübergang zwischen Niederwil und Stetten offiziell eingeweiht.
Alle paar Jahre führt der Reusspark, das Zentrum für Pflege und Betreuung im Gnadenthal, einen Familienplausch durch. Diesmal wurde der Anlass zu einem zweitägigen Brückenfest mit über 30 Attraktionen, Festbeizen und viel Musik für Jung und Alt ausgebaut unter der Mitwirkung von Vereinen aus Niederwil und Stetten.
Für die Querung der Reuss im Gnadenthal war früher einzig die Überfahrt auf dem Wasser möglich. 1908 erfolgte die Einstellung der Wagenfähre über die Reuss. 1909 war die erste Brücke fertiggestellt. 1990 wurde der Bau einer neuen Brücke abgelehnt und erst 2013 vom Grossen Rat genehmigt. Nachdem im August 2015 mit den Bauarbeiten begonnen wurde, konnte die 100 Meter lange und 9,8 Meter breite neue Brücke bereits im September 2016 eröffnet werden.
Der offizielle Festakt auf dem Parkplatz bei der neuen Brücke im Gnadenthal wurde vom Musikverein Niederwil und der Musikgesellschaft Stetten gemeinsam begleitet. Reusspark-Direktor Thomas Peterhans stellte den Vergleich an, dass die neue Brücke nicht nur dem Durchgangsverkehr diene, sondern in gewissem Sinne auch ein Bindeglied zwischen Generationen darstelle.
Vor dem ersten Brückenbau verkehrte während Jahrhunderten eine Fähre zwischen den beiden Reussufern, wie er ausführte. „Bereits vor 700 Jahren konnte man im Gnadenthal die Reuss mit einer Fähre überqueren. Das Recht für den Fährbetrieb lag in der Obhut des Damenstifs Schänis“, führte der Direktor weiter aus. Das Kloster Schänis wurde im 9. Jahrhundert gegründet und war ein adliges Damenstift, welches im Jahr 1811 aufgehoben wurde.
Die Fähre wurde im Laufe der Zeit zu einer Wagenfähre ausgebaut, die für die Übersetzung von beladenen Fuhrwerken, inklusive Gespannen, ermöglicht hat. Es war eine schwierige und auch gefährliche Art der Flussüberquerung. Sie hatt denn auch zu zahlreichen schweren Unglücksfällen geführt. So auch am 22. Juli 1871, als drei junge Männer aus Stetten mit der Fähre gekentert und ertrunken waren.
Zuständig für den Fährbetrieb war der jeweilige Eigentümer des Klostergebäudes. Also bis 1876 die Klosterfrauen (Zisterzienserinnen), ab 1876 bis 1894 der Inhaber der in den ehemaligen Klostergebäuden eingerichteten Tabakwarenfabrik Gnadenthal. Ab 1894 war die Pflegeanstalt beziehungsweise der Verein Gnadenthal.
Für die Überfahrt war ein Fährmann verantwortlich. Wer die Klosterkirche Gnadenthal besucht hat, wurde kostenlos vom Fährmann über die Reuss befördert. „Wer aber nur eis isch go zieh is Gnödeli“, so Direktor Peterhans, musste für die Überfahrt bezahlen. Es habe sich also gelohnt, in der Klosterkirche ein „Gegrüsst seist du Maria“ oder ein „Vaterunser“ zu beten. „Vielleicht wäre das eine neue Business-Idee, wieder einen Brückenzoll einzuführen für die beiden Pfarrherren links und rechts der Brücke, damit sie den Kirchenbesuch wieder ein wenig in Schwung bringen könnten“, schlug Thomas Peterhans mit einem Augenzwinkern vor.
Der Fährbetrieb war nicht rentabel. Vor allem auch deshalb nicht, weil die Gemeinden auf der gegenüberliegenden Uferseite kein Eigentum hatten. „Das ist übrigens auch heute noch so. Ich kenne persönlich keinen Landwirt aus Niederwil oder Stetten, der auf der jeweils gegenüberliegenden Brückenseite Grundstücke besitzt. So auch der Verein Gnadenthal, der 48 Hektaren Landwirtschaftsland bewirtschaftet – alles auf der Niederwiler Seite“, betonte der Redner.
Wenig Fährbetrieb gab es auch, weil der Übergang über die Reuss lieber über die sicheren Brücken in Mellingen oder in Bremgarten gesucht wurden. 1891 wollten die Besitzer der Tabakwarenfabrik den Fährbetrieb einstellen, was zu grossen Protesten der Anstössergemeinden geführt hat. Der Protest wurde bis an den Regierungsrat in Aarau herangetragen, der dann entschieden hat, dass der Fährbetrieb im Gnadenthal nicht eingestellt werden darf.
Eine weitere Reminiszenz von Reusspark-Direktor Thomas Peterhans: „Später, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, sind immer wieder Klagen eingegangen, dass der Fährmann lieber ins Gnödeli gegangen und 'eis gsoffe' habe und die Passagiere, die übergesetzt werden wollten, lange warten liess. Wobei der Fährmann – und das muss man ihm zugute halten – stets den Weg über die Reuss gefunden hat, trotz der Promille, die er intus hatte.“
Die vielen Reklamationen bereiteten dem Verein Gnadenthal damals einige Sorgen und Verdruss, und der finanzielle Aufwand mit der Fähre war beträchtlich. Deshalb hatte der Verein den Wunsch, dass eine andere Lösung anstelle der Fähre gefunden werden müsste.
Barbara Fischer, Vizeammann von Stetten, rollte vor dem Festpublikum die Geschichte der ersten Brücke von 1909 im Gnadenthal auf, deren Bau damals 32’600 Franken gekostet hatte. Bereits 1905 gab es einen kleinen Vorgeschmack auf die Brücke, als nämlich die Pontoniere von Mellingen in einem dreistündigen Marsch ins Gnadenthal kamen und zu Übungszwecken eine Hilfsbrücke bauten. „Im August 1908 wurde der Fährbetrieb endgültig eingestellt. Niederwil und Stetten standen ohne Verbindung da“, erklärte Barbara Fischer.
Der Verein Gnadenthal trieb die Projektierungsarbeiten für eine Brücke voran. Schon im November 1908 legte eine Brugger Stahlbrückenbau-Firma Pläne vor für eine 3 Meter breite Stahlfachwerkbrücke mit einer Tragfähigkeit von 4 Tonnen für pauschal 29'700 Franken. Im Februar 1909 unterzeichnete der Kanton den Werkvertrag, bevor die Finanzierung gesichert war. Auf Wunsch der Gemeinden wurde schliesslich eine 4 Meter breite Brücke gebaut, was Mehrkosten von 3000 Franken zur Folge hatte. Schon im Juni 1909 konnte der Flussübergang in Betrieb genommen werden.
Bei der Einführung des Busbetriebes im Jahr 1947 und durch die Mehrfrequentierung durch Lastwagen, wurde eine Verstärkung der Brücke notwendig und man hat die Fahrbahnplatte durch eine aus Stahlbeton ersetzt. 1949 wurde das Stahljoch des Mittelpfeilers mit Beton ummantelt, sodass sich die Tragkraft auf 13 Tonnen erhöhen sollte. Aber 10 Jahre später wurde festgestellt, dass ein Berechnungsfehler gemacht wurde und die Tragkraft lediglich 10 Tonnen betrug. Deshalb war 1961 abermals eine Verstärkung der Brücke nötig. 1971 wurden die Fahrbahnbeläge und die Übergänge erneuert und der separate Steg für die Sicherheit der Fussgänger wurde angebaut. Dafür wurden die Stahlträger der ehemaligen SBB-Brücke in Rothrist verwendet. 1990 hat der Kanton die Gnadenthaler Brücke für 260'000 Franken erneuter, mit dem Ziel, einen gefahrlosen Betrieb für weitere 10 Jahre zu garantieren.
Im August 2005 gab es ein grosses Hochwasser. Die Fluten reichten bis wenige Zentimeter unter die Fahrbahnplatte. Der Mittelpfeiler wurde unterspühlt, das Brückengeländer wurde durch einen Baumstamm beschädigt. Die Brücke musste während mehreren Wochen gesperrt werden. Es wurde ein Stahlträger als Anker in den Flussgrund gerammt und die Brücke daran festgemacht. Die Gewichtslimite wurde von 16 auf 3,5 Tonnen herabgesetzt. Der Bau einer neuen Brücke wurde unausweichlich, weil die alte Brücke ja schon fast weggeschwemmt wurde.
Der Niederwiler Gemeindeammann Walter Koch schilderte anschliessend pointiert die Entstehung der neuen Brücke, die sich mit leichtem Kurvenradius über die Reuss schwingt und durch ihre elegante Form besticht.