Wohlen / Lenzburg
Eine kleine Konfi schrieb Wirtschaftsgeschichte

Der Wohler Kantischüler Philipp Bürgi deckt anhand der "Delicia" von 1946 der Lenzburger Firma Hero ein Stück der Schweizer Nachkriegszeit auf.

Andrea Weibel
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Philipp Bürgi mit den heutigen "Hero Delicia"-Konfitüren.

Philipp Bürgi mit den heutigen "Hero Delicia"-Konfitüren.

Aargauer Zeitung

Die Zeit des Zweiten Weltkrieges war auch für die Schweizer Bevölkerung hart. Dass aber die Jahre gleich danach wohl noch härter für sie waren, wissen die wenigsten Leute. Jener Zeit hat der Wohler Kantischüler Philipp Bürgi seine Maturaarbeit gewidmet. Und zwar schafft er es, viele Aspekte jener Zeit am Beispiel eines kleinen Produktes aufzuzeigen, das 1946 auf den Markt kam: die Hero Delicia.

Man kann sich kaum vorstellen, dass die Konfitüre, die es heute wieder in 21 Geschmacksrichtungen zu kaufen gibt, eine sehr intelligente, aus der Not geborene Erfindung war. Denn was den Leuten am wichtigsten war, damals, als alles rationiert war: Sie wollten Zucker, aber sie wollten auch möglichst „punktearm“ einkaufen, als möglichst wenig Lebensmittelcoupons für die Produkte ausgeben. Mit der Delicia gelang der Hero ein kleiner Geniestreich, der beides verbinden konnte. Obwohl das kaum mehr jemand weiss.

Werbung mit Zucker - das Gegenteil von heute

„Die Rahmenbedingungen damals waren schwierig“, berichtet der 19-jährige Philipp Bürgi. „Die Rationierung war noch härter als während des Krieges, denn die Vorräte waren aufgebraucht, die Grenzen aber noch nicht wieder geöffnet.“

Auch die Firmen mussten sich etwas überlegen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. „Die Hero hat sich also überlegt, was sie machen soll. Ihr Ziel war es, eine neue Konfi zu entwickeln, die möglichst punktearm war.“ Bürgi hatte ursprünglich zu einem anderen Thema im Archiv der Hero, das sich mittlerweile zum Teil im Schweizer Wirtschaftsarchiv in Basel, zum anderen Teil in Lenzburg befindet, forschen wollen. Doch als er die Geschichte der Delicia entdeckte, war er Feuer und Flamme.

„Die Hero entdeckte, dass sie den Kristallzucker durch Rohrzucker ersetzen konnte, der nicht als vollwertiger Zucker galt und darum weniger Coupons erforderte“, berichtet der Wohler. „Damals war Zucker für die Leute ein wichtiges Lebensmittel. Man konnte nicht damit werben, dass die Konfi keinen Zucker mehr enthielt.“ Darum steht auf dem Plakat von damals an prominenter Stelle, dass die Konfi 12,5 Prozent Kristallzucker enthält. „Es ist sehr spannend, denn es ist das genaue Gegenteil von heute, wo man mit möglichst wenig Zucker wirbt“, sagt Bürgi lachend.

Im ersten Halbjahr 1,5 Mio. Kilogramm verkauft

Es war eine detektivische Arbeit, die Philipp Bürgi leisten musste, um herauszufinden, was damals in der Delicia enthalten war - abgesehen von den 12,5 Prozent Kristallzucker. Teilweise waren die Dokumente geheim und dürfen noch heute nicht gelesen werden. „Ich habe viele Verwaltungsratsberichte aus jener Zeit durchgearbeitet, aber da habe ich wenig gefunden.“

Stattdessen musste er clever kombinieren: „Ich wusste vom Werbeplakat, dass es sich um eine Dreifruchtkonfi handelte. In den Einkaufslisten habe ich dann entdeckt, dass in jenen Jahren 600 Tonnen mehr Aprikosen eingekauft und zusätzliches Ananaskonzentrat eingeführt wurden.“ Er las sich durch Jahresberichte, Preislisten und Prospekte.

Dann stiess er auf jenen Punkt, der die Verkaufszahlen durch die Decke schiessen liess: „Das Kriegsernährungsamt deklarierte und rationierte damals alles. Es beschloss, dass ab einem gewissen Fruchtanteil Konfi keine Konfi mehr war, sondern als Kompott galt. Das wiederum machte sie punktefrei, man brauchte also gar keine Coupons mehr dafür. Das brachte die Leute dazu, sich kurz nach der Einführung der Delicia 1946 darauf zu stürzen.“ Innert eines halben Jahres verkaufte die Hero 1,5 Mio. Kilogramm, was einen Umsatz von 76 Mio. Franken generierte.

Die Hero konnte mit der Delicia so viel einnehmen, weil sie die Vorreiterin war und noch keine Konkurrenten hatte. Lange dauerte dieser Höhenflug jedoch nicht. Nach nur zwei Jahren war er vorbei. Bürgi erklärt: 1948 wurde die Rationierung abgeschafft und die punktefreie Delicia verlor ihren grossen Vorteil im Markt. Ab dann gingen die Zahlen bergab.“

Eine der geschichtsträchtigsten Konfitüren der Welt

„Es war eine spannende Erfahrung, sich auf ein so kleines Detail in der Geschichte zu konzentrieren und damit ein ganzes Universum von Dingen aufzeigen zu können“, erklärt Bürgi, der bald mit einem Rechtsstudium beginnen wird, seine Motivation. „Ausserdem war es unglaublich, im Schweizerischen Wirtschaftsarchiv umfasst das Hero-Archiv 72 Laufmeter.“

Mit der heutigen Geschäftsleitung der Firma Hero hatte er wenig zu tun. „Sie stellten mir für die Präsentation alle 21 Sorten der heutigen Delicia zur Verfügung“, freut er sich. Und er hat einen Fehler in ihrer Geschichte entdeckt: „In einem Buch über ihre Geschichte und auch auf ihrer Website stand, dass die Delicia schon 1939 herausgekommen sei. Das wäre eine vollkommen andere Ausgangslage.“ Doch dass das mit den historischen Aufzeichnungen nicht übereinstimmt, ist für Bürgi kein Grund, sich zu schämen. „Im Gegenteil, ich finde, jetzt könnte man damit werben, dass man wohl eine der geschichtsträchtigsten Konfitüren der Welt im Sortiment hat.“

Seine gründliche Forschung hat mehrere Organisationen auf ihn aufmerksam gemacht. So ist er für den Rotary-Preis nominiert, der an der Kanti Wohlen verliehen wird. Und auch bei „Schweizer Jugend forscht“ steht er im Finale.

Die Beziehung des Chefs als P.S.

„Für mich war die Arbeit in den Archiven spannend und speziell“, fügt Bürgi an. „Beispielsweise las ich eine Briefkorrespondenz zwischen den Leitern der Hero und deren Tochterfirma. Ganz am Schluss der Briefe stand als P.S. jeweils etwas über die schwierige Beziehung des Hero-Chefs zu seiner Frau. In einem Brief schrieb er, er gehe sich jetzt auf der Geschäftsreise besaufen“, erzählt Bürgi schmunzelnd. „Man spürt die Leute noch richtig in diesen Briefen. Rechtschreibung war manchmal nicht so wichtig, und man merkt auch, dass sie nicht immer ganz bei der Sache waren, während sie den Brief schrieben. Eine schöne Erfahrung für mich.“

Auch die verschiedenen Lehrpersonen, die ihn unterstützten, besonders aber der Archivar in Basel haben ihn beeindruckt: „Er lief hin und her und zog überall spannende Bücher für mich aus den Regalen. Ich erkannte, dass er sein Studium nicht absolviert hat, um damit Geld zu verdienen, sondern weil er mit ganzem Herzen dabei ist. Das hat mich unglaublich motiviert.“