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Heute, am 30. Oktober, ist Tag der pflegenden Angehörigen. Autorin Rita Brügger aus Arni zeigt in ihrem neuen Buch, dass die zwölf Jahre, die sie ihre Mutter daheim pflegte, ein Geschenk für alle waren.
Ihre Mutter pflegen? Nein, das konnte sich die Kindergärtnerin Rita Brügger beim besten Willen nicht vorstellen. Sie war aktiv, hatte mit ihrem Mann einen guten Freundeskreis und war oft ausser Haus. Wo sollte da Platz sein für eine pflegebedürftige Person? In ihrem neuen Buch steht dazu: «Hätte es mir jemand vorgeschlagen oder prophezeit, ich hätte ihm niemals geglaubt. Lieber hätte ich mich bei einem solchen Vorschlag ins Ausland verdrückt.» Sie schreibt sogar, sie habe «eine solche Option auch gar nicht ernsthaft in Erwägung gezogen, im Gegenteil. Wie oft habe ich mir Mutter ins Pfefferland gewünscht».
Doch am Ende wurden es zwölf Jahre, in denen das Ehepaar sich um die Seniorin kümmerte, die im Alter von 80 Jahren eine Streifung, also eine weniger schlimme Form eines Hirnschlags, gehabt hatte und seither auf Hilfe angewiesen war. Sie fanden die Situation sogar schon bald so schön, dass sie den Platz im Altersheim, der immer wieder für die Seniorin frei geworden wäre, ein ums andere Mal abgelehnt haben. Wie kann das sein? Das erzählt die mittlerweile pensionierte Autorin Rita Brügger aus Arni in ihrem Buch «Doppelt geschenkte Zeit – letzte Jahre mit Mutter» und möchte allen Mut machen, die in ähnlichen Situationen sind.
«Ich finde, der Titel sagt eigentlich schon alles», erklärt Rita Brügger lächelnd. «Ich hätte es mir wirklich nie träumen lassen, meine Mutter zu pflegen, und dann auch noch so lange. Wir haben Fehler gemacht, ähnlich wie junge Eltern, die auch erst lernen müssen, mit ihrem Baby umzugehen», erinnert sich die 69-Jährige lachend. «Nach und nach sind wir aber in die Situation hineingewachsen. Unsere Freunde haben uns halt einfach alle drei eingeladen statt nur zwei. Und mein Mann und ich haben unser Privatleben um Mutter herum gebaut.» Generell habe ihr einfallsreicher, lieber Mann viel zum Gelingen beigetragen, berichtet die Autorin.
Ein schönes Beispiel sind die Wanderungen, die das Paar jeden Sonntagmorgen in der näheren Umgebung unternahm. Im Buch wird beschrieben, dass die Seniorin sich immer schon am Samstagabend aufs Ausschlafen freute, obwohl sie das jeden Tag tun konnte. Doch am Sonntag kam weder eine Spitex, noch hatte sie andere Termine. Während sie ausschlief, war das Ehepaar um 7 Uhr abmarschbereit. Sie machten eine weitere Etappe des Freiämterwegs oder anderer Wanderrouten. Gegen 11 Uhr waren sie zurück, dann wurde ausgiebig mit der Mutter gebruncht, was allen dreien gut gefiel. «Seit Mutter gestorben ist, könnten wir das anders machen. Aber wir haben es beibehalten», erzählt Brügger.
Natürlich gab es nicht nur schöne Momente. «Es gab Zeiten, wo ich nicht mehr weiter wusste mit ihr», erinnert sich die Autorin. «Aber eine Freundin hat mir einmal klar gemacht, dass ich meine Mutter nicht ändern kann, sondern mir etwas einfallen lassen musste, um die Situation zu ändern. Das hat mir sehr geholfen.» Beispielsweise tat die alte Dame sich damit schwer, dass ihre Kinder das Elternhaus räumen und vermieten wollten. Sie wollte kaum ein Stück weggeben.
Da griff Brüggers Bruder zu einer Notlüge: Der neue Mieter des Hauses stellte sich bei der Seniorin vor, bedankte sich, dass er das schöne Haus bewohnen durfte, und bot ihr 1000 Franken für die verbliebenen Möbel. Sie willigte voller Freude ein. «Dass das Brockenhaus danach alles noch Brauchbare abholt und dass wir den Rest entsorgen, braucht sie nicht zu wissen», heisst es im Buch. Diese kleine Notlüge habe die Seniorin wieder ruhig schlafen lassen – und das war ja das Wichtigste.
Ein ganz wichtiger Punkt während all der Jahre war für Rita Brügger, dass sie ihre Mutter Stück für Stück besser kennen lernen und verstehen konnte. Sie hatte beispielsweise nicht gewusst, dass diese als bettelarme Sudetendeutsche in Böhmen, dem heutigen Tschechien, aufgewachsen war. Ein Poesiealbum, das all die Jahrzehnte überlebt hat, zeigt das auf. Ihre Mutter hatte ihr das nie genau erzählt, aber aufgrund ihrer eigenen Nachforschungen und Geschichten einer Tante erfuhr Rita Brügger immer mehr Einzelheiten. Am Ende erfuhr sie sogar, dass sie eine Cousine in Deutschland hatte. «Ich rief sie einfach an, und wir verstanden uns von Anfang an», freut sich die Autorin. «Leider ist sie mittlerweile ebenfalls verstorben, aber wir haben sie mehrfach besucht und uns sehr gut mit ihr angefreundet.»
Insgesamt möchte Rita Brügger allen Mut machen, die in einer ähnlichen Situation sind. «Ich hätte nie geglaubt, dass ich das einmal machen könnte. Aber im Nachhinein hat es auch mir so gut getan, meine Mutter bei uns zu haben. Sie hatte wohl immer wieder das Gefühl, sie falle uns zur Last. Ich wünschte mir, sie hätte ermessen können, wie viel mir im Gegenteil ihr Hiersein gegeben hat», beschreibt sie gerührt.
Rita Brügger «Doppelt geschenkte Zeit – letzte Jahre mit Mutter», 130 Seiten. Erhältlich bei der Autorin (bruegger.rita@bluewin.ch oder 0566401740) oder im Buchhandel.