Annemarie Graf hoffte jahrelang vergebens, dass ihre Tochter den Familienbetrieb übernimmt – nun hat sie ihn verkauft. Nach über 30 Jahren kommt das Schuhhaus Graf damit in neue Hände.
Annemarie Graf läuft zwischen den Schuhregalen durch ihren Laden am Brugger Neumarktplatz. Sie nimmt einen schwarzen Winterschuh aus dem Gestell und streift mit der rechten Hand über das Leder. «Schauen Sie mal, wie schön das Material hier verarbeitet ist», sagt sie und strahlt. Doch eigentlich ist es der 70-Jährigen in diesen Tagen überhaupt nicht ums Lachen.
Ende Woche übergibt sie das Schuhhaus Graf, das sie vor 30 Jahren und 3 Monaten mit ihrem Mann eröffnete, in neue Hände. Fast ein Jahr lang dauerten die Verkaufsverhandlungen mit Erika Barth-Wehrli von der Schuh Wehrli AG – einer Partnerin von einer Einkaufsgemeinschaft. Graf war es wichtig, eine Nachfolge mit den gleichen Wertvorstellungen und Qualitätsansprüchen zu finden. Das Personal – bestehend aus einer Voll- und zwei Teilzeitangestellten – wird übernommen. «Wir haben sehr treue Verkäuferinnen. Das wird von unserer Kundschaft auch geschätzt.» Im laufenden Jahr wird nichts geändert. Für 2016 ist dann ein Ladenumbau mit Namensänderung geplant.
Obwohl Annemarie Graf das Pensionsalter bereits vor einigen Jahren erreicht hat, steht sie noch immer täglich mit der gleichen Begeisterung für Schuhe von hoher Qualität und für seriöse Fachberatung in ihrem Geschäft. Wie viel Fingerspitzengefühl es im Verkauf braucht, weiss Graf seit ihrer Kindheit. Sie wuchs in der Nähe von Köln auf, wo ihre Eltern und Grosseltern bereits eigene Geschäfte führten. Im Stoffladen entwickelte sich ihre Vorliebe für Qualitätsprodukte. Sie nähte sich viele Kleidungsstücke selber, später auch jene für ihre Tochter Cathrine.
Als sie mit ihrem Ehemann das Schuhgeschäft ihrer Schwiegereltern von der Annerstrasse an den Neumarktplatz verlegte, sei das Angebot mit Metzgerei, Drogerie, Bankfilialen und Elektrofachgeschäft im Herzen der Stadt Brugg noch grösser gewesen als heute, sagt Annemarie Graf. Die meisten Geschäfte wurden von den Inhabern geführt. Das hat sich gewandelt. Heute ziehen immer mehr Discounter in die Fussgängerzone. «Ich finde es sehr schade, dass es in der Stadt Brugg nicht einmal eine Metzgerei gibt.»
Viele Kunden sind dem Schuhhaus Graf über Generationen treu geblieben. «Wir haben solche, die früher ihre Kinderschuhe bei uns kauften, und heute eine Schuhauswahl für ihre Mutter, die im Altersheim lebt, holen», sagt Graf, die beim Einkauf möglichst auf europäische Ware aus nachhaltiger Produktion achtet.
Am Anfang half Annemarie Graf vor allem am Freitag und Samstag im Laden aus. Als ihr Mann 1992 plötzlich erkrankte und sechs Jahre später verstarb, übernahm sie das Zepter ganz. Tochter Cathrine verbrachte ihre Kindheit im Schuhhaus. «Sie hat oft mit der mechanischen Schreibmaschine Büro gespielt», sagt die Mutter. Während Jahren machte sie sich deshalb Hoffnung, dass die heute 37-Jährige – trotz kaufmännischer Ausbildung – das Schuhhaus übernehmen würde. Cathrine Graf beschloss aber nach reiflicher Überlegung, nicht auf dieses Angebot einzusteigen. Die Mutter ist noch heute enttäuscht und traurig über diesen Entscheid.
Annemarie Graf tritt ab Montag stufenweise in den Ruhestand. Im Schuhmarkt Alte Post – einer Filiale vom Schuhhaus Graf – läuft der Ausverkauf noch bis Ende März. Da herrscht momentan viel Betrieb. «Wir haben noch einige Sommermodelle im Keller», sagt die versierte Geschäftsfrau. Wie sie die Zeit danach gestalten wird, weiss Annemarie Graf noch nicht genau. «Vielleicht werde ich wieder nähen. Auf jeden Fall will ich schwimmen gehen. In der Vergangenheit hatte ich manchmal zu wenig Zeit für Freunde; das soll sich bald ändern», sagt sie und streicht mit der Hand nochmals über den Lederschuh, bevor sie ihn auf die Ablage zurückstellt und tief seufzt.