Brugg
Leere Kühlschränke wegen Corona: «Viele Menschen in der Schweiz sind in prekären Arbeitsverhältnissen»

Im Kirchlichen Regionalen Sozialdienst Brugg-Windisch holen sich Menschen Hilfe in Notsituationen – derzeit auch wegen der Pandemie. Die Standortleiterin spricht über die Folgen der prekären Arbeitsverhältnisse in der Schweiz.

Katja Gribi
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Betânia Figueiredo vor dem Provisorium, in dem der KRSD zurzeit untergebracht ist.

Betânia Figueiredo vor dem Provisorium, in dem der KRSD zurzeit untergebracht ist.

Katja Gribi

Die Pandemie hat im Kirch­lichen Regionalen Sozialdienst Region Brugg-Windisch (KRSD) die gewohnten Abläufe stark umgewälzt. Die Anlaufstelle widmet sich unter anderem Menschen, die in finanzielle Not geraten sind. Unterstützt werden diese mit Beratungen zu Sozialversicherungs- und Rechtsfragen. Zudem übermittelt sie Hilfesuchende bei Schwierigkeiten und Notfällen an die spezialisierten Anlaufstellen.

Finanziert wird der KRSD von der Römisch-Katholischen Kirchgemeinde Brugg. Die operative Führung obliegt der Caritas Aargau. Derzeit wird die Liegenschaft des Sozialdienstes in Brugg renoviert, die Büroräumlichkeiten sind bis im Dezember in einem Provisorium neben der Kirche untergebracht.

Krise erfordert Umdenken in den Beratungen

«Die Coronakrise hat sich vorerst nur schleichend bemerkbar gemacht», sagt Betânia Figueiredo, Leiterin des KRSD-Standorts Brugg. «Erst im Sommer wurde ihr Ausmass sichtbar.» Die Anfragen für Beratungen stiegen rasant an, viele der Hilfesuchenden waren neue Klienten. Menschen, die noch nie in eine Notlage geraten sind, fanden sich plötzlich in einer privaten und beruflichen Krise.

Auch die Form der Beratungen hat sich mit der Corona­krise stark geändert, aus Kapazitätsgründen konnten lediglich Kurzzeitberatungen durchgeführt werden, in denen die Leistungen und coronabedingten Hilfsangebote auf Bundesebene thematisiert wurden. Die Not der Menschen erforderte schnelle Hilfe. Die personellen Kapazitäten des KRSD wurden durch die vielen Anfragen überschritten. Zeitweise musste ein Klientenstopp eingelegt werden. «Die Qualität der Beratungen wollten wir weiterhin gewährleisten können. Demnach mussten wir im grössten Ansturm einige Ratsuchende weiterverweisen», sagt Figueiredo.

Durch die vorübergehende finanzielle Unterstützung der Glückskette wurde ein schnelles Eingreifen in absoluten Notsituationen ermöglicht, wie Figueiredo erklärt: «Es kam vor, dass Leute angerufen haben, weil der Kühlschrank zu Hause leer war. Durch die Unterstützung der Glückskette konnten wir in solchen Ausnahmesituationen mit Migros-Gutscheinen aushelfen.» Zusätzlich zum finanziellen Aspekt konnte auch Zeit eingespart werden, die beim langwierigen Prozess von Stiftungsgesuchen verloren geht. Vor allem Selbstständige, temporär Angestellte und Stundenlöhner, die schon vor der Pandemie eher knapp über der Armutsgrenze waren, gehören laut Figueiredo zu den grossen Verlierern der Pandemie.

Die meisten Menschen, die seit dem Lockdown beim KRSD angerufen haben, sind Teil dieser Gruppe. Viele der Hilfesuchenden sind Arbeitnehmer, die finanziell schlecht abgesichert waren und von den Arbeitgebern fallen gelassen wurden. «Die Krise hat deutlich gemacht, dass sich viele Menschen in der Schweiz in prekären Arbeitsverhältnissen befinden», meint Figueiredo. Menschen, die schon vor Corona unter der Armutsgrenze lebten, seien dagegen weniger stark betroffen, da die Sozialleistungen während der Krise gleichgeblieben sind.

Die Digitalisierung als Grundproblematik

Grosse Schwierigkeiten bereiteten auch die Digitalisierungsprozesse, die sich durch die Pandemie verstärkten. «Die plötz­liche Forderung technischer Fertigkeiten stellte viele unserer Klienten vor riesige Probleme. Auch das Bereitstellen der benötigten technischen Ausrüstung war vielerorts nicht möglich», sagt Figueiredo. Vermehrt wurde auch in solchen Fällen Hilfe geleistet, sowohl in materieller Form als auch bei technischen Fragen, wie beispielsweise beim Ausfüllen digitaler Formulare oder Online-Bewerbungen.

Die Problematik der Digitalisierung ist jedoch schon länger Thema, wie Figueiredo betont. «Die Menschen sind überfordert, ihre Ansprüche geltend zu machen. Die Krise hat dies nur noch einmal um ein Vielfaches verstärkt.» Dennoch hat die derzeitige Situation auch einen positiven Aspekt mit sich gebracht. «Die Hürde, sich Hilfe zu holen, ist gesunken. Vorher haben Hilfesuchende viel stärker unter der Stigmatisierung gelitten. Durch den Kollektivschaden der Krise fiel der Aspekt der gesellschaftlichen Ächtung eher weg», stellt Figueiredo fest. «Die Krise betrifft uns schliesslich alle.»