Brugg
Drogen gaben ihm Geborgenheit nach sexuellem Missbrauch

Teil 3 unserer Sucht-Serie: Ein schlimmes Ereignis in der Kindheit treibt Kilian* (32) in die Sucht – jetzt hofft er auf ein gesundes Leben

Janine Müller
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Nach einem Missbrauch kämpft sich Kilian ins Leben zurück und macht Karriere. Doch dann folgt «die wildeste Zeit» seines Lebens, wie er sagt.

Nach einem Missbrauch kämpft sich Kilian ins Leben zurück und macht Karriere. Doch dann folgt «die wildeste Zeit» seines Lebens, wie er sagt.

Foto: Claudio Thoma / Aargauer Z

Kilian ist 32 Jahre alt und fängt in seinem Leben nochmals von vorne an. Zurzeit ist er auf Wohnungssuche. Seine Zeit im Betreuten Wohnen in Brugg ist bald vorbei. Es läuft gut, er hat eine Wohnung gefunden, die ihm gefällt. Nun muss er sich via Stiftung für Sozialtherapie dafür bewerben. Eine Stelle in seinem angestammten Job hat er schon angetreten. Bereits vor einem Jahr war Kilian so weit, dann hatte er einen Rückschlag, konsumierte wieder Drogen. Das soll ihm dieses Mal nicht mehr passieren.

Das Leben von Kilian ist geprägt von Rückschlägen. Angefangen hat alles mit einem schlimmen Ereignis in seiner Kindheit. Das Leben von Kilian verläuft bis dahin völlig normal. Er wächst, umsorgt von seinen Eltern, gemeinsam mit Geschwistern im Aargau auf. Doch von einem Tag auf den anderen ist nichts mehr normal.

Kilian wird als Elfjähriger von seinem eigenen Lehrer sexuell missbraucht. In Kilian zerbricht etwas. Er erzählt bald von diesem Missbrauch. Es kommt zu Gerichtsverhandlungen, Kilian geht in die Therapie. «Es wurde alles versucht», sagt er heute und zieht an seiner Zigarette. Bis er 18 Jahre alt ist, wird er vom jugendpsychologischen Dienst betreut. Dann hat Kilian all diese Therapiestunden satt.

Sucht-Serie

Die Stiftung für Sozialtherapie ist an fünf Standorten im Kanton Aargau präsent. Sie hat ihre Liegenschaft an der Klosterzelgstrasse 21 in Windisch frisch saniert. Dort ist der Bereich Betreutes Wohnen untergebracht.

Doch wer sind die Menschen, die in diesem Haus wohnen, mitten im Einfamilienhausquartier? In einer vierteiligen Serie stellen wir Menschen vor aus dem Betreuten Wohnen.

Es ist dieselbe Zeit, als er im Ausgang zum ersten Mal kifft. «Am Anfang sagte es mir nicht zu, bis ich es einmal alleine probiert habe», erinnert sich Kilian. Er betäubt damit seine Gefühle, seine Probleme, seine Angst, seine Scham.

Erfolgreich absolviert er zwei Ausbildungen hintereinander. «Vielleicht wäre ich noch besser gewesen, wenn ich nicht gekifft hätte», meint Kilian. «Aber vielleicht hätte ich es ohne Kiffen gar nicht durchgestanden.» Erinnerungen an diese Zeit hat er sonst fast keine. «Die Teenagerzeit ist schwarz für mich», sagt er. Erlebnisse mit seinen Eltern und seinen Geschwistern fehlen komplett.

Freunde konsumieren Heroin

Nach seiner Ausbildung geht er als Saisonarbeiter ins Wallis. Die Arbeitstage sind streng. Kilian arbeitet viermal vier Wochen praktisch am Stück. Als er zurück in den Aargau kommt, ist er ausgelaugt. Er trifft sich mit zwei guten Freunden, die inzwischen von Cannabis auf Heroin gewechselt haben. Weil Kilian keine Kraft hat und die Freundschaft erhalten will, hält er sich mit Kritik zurück.

Er sagt sich immer wieder, wie schlimm Heroin ist. «Ich erinnerte mich daran, wie meine Mutter uns Kindern vom Platzspitz in Zürich erzählt hat», sagt Kilian. «Das hat uns geprägt.» Doch irgendwann probiert er es eben doch aus. «Das Gefühl war einfach toll. Diese Wärme, Geborgenheit und Sicherheit. Das war ein Gefühl, das ich schon so lange nicht mehr verspürt hatte.»

Drogen veränderten alles

Der erste Konsum von Heroin verändert alles in Kilians Leben. Er arbeitet damals in seinem angestammten Beruf. Sechs Monate lang konsumiert er Heroin. Das Beschaffen ist kein Problem und leisten kann er es sich auch. Kriminell wird Kilian nie, um sich den Stoff zu besorgen. Wegen seines Jobs will er aufhören mit den Drogen. Er macht selber einen kalten Entzug.

Doch die Kollegen konsumieren weiter und in der düsteren Winterzeit, die Kilian sowieso nicht mag, rutscht auch er wieder rein. In dieser Zeit bemerken Kilians Eltern dessen Probleme. Sie sind schockiert, unterstützen ihn aber. Es folgt der zweite kalte Entzug. «Ich war sehr froh, dass meine Eltern mir beistanden. Sie verlangten im Gegenzug Ehrlichkeit von mir», erzählt Kilian. «Ihnen war bewusst, warum ich konsumiere.»

Der junge Mann macht eine ambulante Therapie. Im Dezember 2010 hat er einen erneuten Rückfall. Nach einem Streit zu Hause geht er zwar zum Therapeuten, anschliessend besorgt er sich aber Heroin. Im März 2011 geht er in den Entzug. «Dort kann man alles ablegen, alle Sorgen, alle Probleme. Man hat Zeit, mal nur für sich zu schauen», sagt er. Auch die einwöchige Kontaktsperre gegen aussen macht ihm nichts aus. Kilian kommt zur Ruhe.

Schlimme Nebenwirkungen

Er willigt ein, eine stationäre Therapie zu machen. «Ich wollte endlich ein normales, gesundes Leben», sagt er. Neun Monate dauert die Behandlung. Mit der Therapeutin versteht sich Kilian gut. «Sie merkte sofort, dass ich den Missbrauch noch nicht verarbeitet habe.»

Gemeinsam entschliessen sie sich für eine Traumatherapie. Zusätzlich wird Kilian Methadon verabreicht, als eine Art Antidepressivum. Er fühlt sich wie in Watte gepackt. «Heute bereue ich, dass ich Methadon genommen habe.» Das Methadon bewirkt nämlich, dass sich Kilian nicht richtig mit seinen Gefühlen auseinandersetzen kann.

Vor dem Absturz die Karriere

Zuerst aber macht Kilian Fortschritte. Ihm gelingt der Wiedereinstieg in den ersten Arbeitsmarkt. Er startet seine Berufskarriere in einem grösseren Betrieb, wird Berufsbildner und Lehrmeister, ist für die interne Qualitätssicherung zuständig. Der Chef ist über die Vergangenheit von Kilian informiert, pflegt ein gutes Verhältnis mit ihm, stärkt ihm den Rücken. Kilian führt in dieser Zeit auch eine Liebesbeziehung. In Kilians Leben scheint Ruhe einzukehren.

Doch in seinem Betrieb kommt es zum Chefwechsel. Unsicherheit. Stress. Druck. Damit kommt Kilian nicht klar. Einen Sommer lang kifft er wieder durch. Und die Beziehung zerbricht. Kilian zieht für kurze Zeit zurück zu seinen Eltern und damit in die Nähe seiner ehemaligen Kollegen. «Ich habe mich geschämt, dass ich mich nicht im Griff hatte», sagt Kilian. Er zieht in die Wohnung seines alten besten Freundes. Dort lernt er Leute kennen, die Kokain konsumieren. Kilian fragt nach Cannabis, doch die Leute haben nur Kokain. Also nimmt er das. «Auf der Arbeit habe ich dann eine super Leistung hingelegt», erinnert sich Kilian.

«Das wildeste halbe Jahr»

Es folgt «das wildeste halbe Jahr» seines Lebens, wie es Kilian ausdrückt. Nach einem Streit mit seinem neuen Chef geht Kilian nicht mehr zur Arbeit. Um finanziell über die Runden zu kommen, holt er bei seiner Bank einen Kredit über 30 000 Franken ab. «Ich habe davon Drogen konsumiert und in Saus und Braus gelebt.» Kilian beginnt damit, Crack zu rauchen. Dann kommt einer seiner Kollegen ins Gefängnis. Kilian steht plötzlich ohne Unterkunft da. Sein Vater holt ihn ab, bringt ihn in eine Tagesklinik. Wenig später kann er zurück in die Klinik Hasel, wo er bereits den ersten Entzug machte.

Dort wird die Traumatherapie nochmals aufgerollt. Dieses Mal verzichtet Kilian auf Methadon. Er will lernen, mit seinem Gefühlschaos zurechtzukommen. Im Anschluss kommt er ins Betreute Wohnen der Stiftung für Sozialtherapie in Brugg. Im Oktober 2017 ist Kilian eigentlich bereit, um wieder auf eigenen Beinen zu stehen. Er sucht einen Job und eine Wohnung. Doch plötzlich bekommt er Angst, fühlt sich einsam, weil es schwierig ist, neue Beziehungen zu knüpfen, die nichts mit der Vergangenheit zu tun haben. Drei Monate lang konsumiert er erneut Cannabis, Kokain und Heroin.

Sein Betreuer ist aufmerksam, merkt, dass etwas nicht stimmt. «Er ist schwierig zu überlisten», sagt Kilian und meint das positiv. Er kommt in ein Timeout, lernt da, wie er ohne Drogen Stress abbauen kann und wie er seinen Alltag strukturieren kann. Er kehrt anschliessend zurück ins Betreute Wohnen in Brugg.

Wunsch vom normalen Leben

Heute geht Kilian häufig Fahrradfahren, schaut gerne Filme und spielt auf der Playstation. Er ist auf der Suche nach einem Verein, befürchtet aber, dass er da dem Alkohol zu nahe kommt. «In einem Verein geht man häufig gemeinsam trinken, das wäre nicht gut für mich.»

Klappt es mit einer eigenen Wohnung, will sich Kilian weiterhin vom Team des Betreuten Wohnens betreuen lassen. Die Abgabe von Urinproben gehört auch dazu. Nicht, weil Kilian die Kontrolle braucht, sondern weil er beweisen will, dass er ohne Drogen sein kann und stolz darauf ist. Zuerst geht er jetzt aber mit seinen Eltern, mit denen er ein sehr gutes Verhältnis pflegt, und dem Familienhund in die Ferien. «Das ist schön.»

Dereinst hofft Kilian, dass ihm der Wiedereinstieg in den ersten Arbeitsmarkt gelingt, dass er seine frühere Tätigkeit als Lehrlingsausbildner weiterführen kann. Und am Ende wünscht er sich nichts mehr, als ein gesundes, fittes Leben zu führen. Ein Leben ohne Drogen.

* Name der Redaktion bekannt. Der Text ist so anonymisiert, dass keine Rückschlüsse auf die Person gemacht werden können.