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Das Jahr geht zu Ende. Hätten die Schinznacher Tischbombenfabrikanten bereits im Sommer gewusst, dass die Coronafallzahlen wieder steigen, würden uns an Silvester andere Produkte um die Ohren fliegen.
Betritt man die einzige Tischbombenfabrik der Schweiz, ist es stiller als erwartet. Einzig eine vollautomatische Maschine stellt, begleitet von regelmässigem Klackern, farbige Plastikdeckel her – Kopf und Boden für die explosive Ware. «Die Produktion ist in den letzten Zügen», sagt Maurice Regel, seit 26 Jahren Verkaufsleiter bei der Constri AG. Zwischen Januar und November entstehen hier 800'000 Tischbomben. Und deren Herstellung beginnt dort, wo auch der Betrieb aus Schinznach-Dorf seinen Ursprung hat: beim Kunststoff.
Das Konzept der modernen Tischbombe stammt vom verstorbenen Firmengründer Max Amsler Senior. Der Kunststoffingenieur kreierte 1960 mitunter den Constri-Spielzeugbaukasten, der lange als Konkurrenz zu Lego gehandelt wurde. Aus einer Gelegenheit heraus übernahm Amsler vor fast 50 Jahren eine Tischbombenfabrik in der Region. «Die damaligen Produkte waren aber unberechenbar, weil der Kolben aus Zeitungspapier und Deckel sowie Boden aus Karton bestanden», erklärt Maurice Regel.
Amsler stellte sich die Frage: Wie könnte man dieses Problem mit Kunststoff lösen? Gleichzeitig habe man Schweizer Qualität miteinbringen wollen, sich auf Design und Sicherheit fokussiert. Das Ergebnis steht mittlerweile bei fast allen nationalen Grosshändlern wie Coop oder Migros in den Regalen.
Weiter in der Führung durch die Constri AG: Im nächsten Raum erwartet einen eine mittelalterlich anmutende Maschine. Sie produzierte früher Ovomaltinebüchsen und ist heute für das Kartongehäuse der Tischbomben verantwortlich. Trotz ihrem Alter kann die Anlage auch die heutige Nachfrage stemmen, verdoppelte sich der Bedarf doch in den letzten Jahren. Zirka 15 Prozent der 800'000 Produkte werden mittlerweile nach Deutschland, Frankreich, Dänemark, Schweden, Norwegen, Österreich und Grossbritannien exportiert.
Eigentlich würde man gerne die Millionengrenze knacken, dafür sieht Verkaufsleiter Maurice Regel aber im kommenden Jahr schwarz. Zuerst habe man wegen der Pandemie mit einer erhöhten Nachfrage nach Tischbomben gerechnet. Die wieder verstärkten Coronamassnahmen betreffen aber direkt deren Hauptverkaufszeit. «Wahrscheinlich bleiben die Grosshändler auf den Waren sitzen und bestellen 2021 nicht nach.» Neben Geburtstagen, Kinderpartys oder dem 1. August ist das Tischbombengeschäft nämlich vor allem ein Silvesterbusiness– das nur einmal im Jahr so richtig zündet.
Die Zündschnur dafür liegt bei der Constri AG wortwörtlich in weiblicher Hand. Ein Team aus 15 Frauen versieht die leeren Kartonhülsen mit der explosiven Mischung aus Zündschnur und Schiessbaumwolle. Letztere birgt das eigentliche Geheimnis der Schinznacher Tischbombe. «Die Menge an Schiessbaumwolle entscheidet über die Grösse der Explosion», erklärt Maurice Regel. Darum wird die Wolle auch für jede Tischbombe einzeln abgewogen.
Anschliessend gelangen sie über ein Förderband in die Befüllstation, wo der eigentliche Spass eingepackt wird: Zwischen 70 und 200 Gramm an Clownnasen, Tröten und Luftschlangen werden in strenger Reihenfolge von Hand einsortiert. Was auf und in die Tischbomben kommt, kann sich jedes Jahr ändern.
Über 200 verschiedene Designs verfügt die Constri AG mittlerweile. Gemäss Regel ist das Aussehen der Produkte stark kunden- und marktabhängig. «Die Geschmäcker sind je nach Land sehr unterschiedlich, in Frankreich schätzt man beispielsweise lieblichere Designs», sagt der Verkaufsleiter. Inhaltlich orientiere man sich immer am Thema der Tischbombe: Wo Girl oder Party draufstehe, solle das auch drin sein.
Inspiration für neue Produkte holt sich Regel auf Messen in ganz Europa. «Meist orientiere ich mich an der Modebranche, an Blumengrosshändlern oder Weihnachtsschmuck. Sie sind dem Trend oft zwei Jahre voraus», erklärt der Verkaufsleiter. Aktuell stehe reduzierter «Nordic Style» genauso im Fokus wie Glitter und Hologramme.
Wären die momentan hohen Coronafallzahlen schon während des Sommers, wo die Neujahrstischbomben der Constri AG geplant wurden, absehbar gewesen, hätte Regel diese anders befüllt: «Eile mit Weile, Memory, Domino – Gesellschaftsspiele waren 2020 sehr gefragt. Wenn die Situation weiter so bleibt, werden wir davon noch mehr einsetzen.» Zusätzlich plant Regel spezielle Tischbomben zu den Themen Fitness und Krimi.
Zwischen einem und vier Monaten kann es dauern, bis Regel eine neue Idee in einem Prototypen realisiert hat. Das Verrückteste, das er sich bisher einfallen liess, war eine Tischbombe in einer durchsichtigen Hülse und eine mit Plüschkopf. Letztere sollte besonders Kinder ansprechen. «Wir merkten, dass viele Mädchen und Jungen die Tischbombe nach dem Zünden behalten. Der Plüschkopf konnte also wieder aufgesetzt und die Kartonhülle als Sparkässeli genutzt werden», sagt Regel. Die beiden Tischbomben seien aber mehr ein «Gäg» gewesen.
In der Schweiz ist die Constri AG zwar die einzige Tischbombenfabrik, nicht aber im Ausland. So machen in Frankreich gerade chinesische Unternehmen dem Schinznacher Betrieb Konkurrenz. Das, obwohl deren Inhalt oft «zusammengeknittert» und «nicht sicher sei», wie Regel sagt. Er teste regelmässig Produkte anderer Händler. National stammen die meisten Tischbomben von der Constri AG. Erkennbar sind sie an dem Swiss-made-Siegel.
Nachdem die Tischbomben befüllt und mit dem Deckel verschlossen wurden, geht es für sie ins Lager – oder in den Testraum. Zur Freude von Regel müssen die Produkte regelmässig geprüft werden. So darf der Inhalt beispielsweise maximal zwei Meter in die Luft spicken und muss jedes Mal aus den gleichen Artikeln bestehen. Maurice Regel testet die Tischbomben meist nicht selbst. So richtig krachen lasse er es aber privat gerne. Es ist darum klar, womit «Mister Tischbombe» bei jedem Fest überrascht.
Tischbomben-Boom dank Corona erwartet. Ein Beitrag von Tele M1: