Bezirksgericht Brugg
Autofahrerin bemerkte Kollision erst am nächsten Tag

Per Strafbefehl wurde eine Autofahrerin wegen Rechtsüberholens verurteilt. Diese zog das Urteil ans Bezirksgericht Brugg, deren Richterin sie vom Vorwurf frei sprach. Eine Busse gibts trotzdem.

Louis Probst
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Das Bezirksgericht sprach eine Lenkerin vom Vorwurf des Rechtsüberholens frei – eine Busse gabs trotzdem

Das Bezirksgericht sprach eine Lenkerin vom Vorwurf des Rechtsüberholens frei – eine Busse gabs trotzdem

AZ

«Ich anerkenne den Sachverhalt nicht», erklärte die Beschuldigte, eine Hausfrau aus dem Kanton Zürich, vor Gericht. «Ich habe nicht rechts überholt. Ich bin nur rechts vorbeigefahren, weil wegen einer Baustelle eine Verengung signalisiert war.»

Sie habe die rechte Spur verlassen müssen und dann eine Lücke in der Kolonne auf der Überholspur gesucht. «Dabei bin ich schon rechts vorbeigefahren», ergänzte die Frau. «Es ging mir dabei aber nicht darum, einen Vorteil zu erlangen, um zwei oder drei Autos weiter vorne zu sein. Ich habe dann eine Lücke gesehen und gedacht: Die passt.»

Sie hätte aber den Eindruck gehabt, dass die Lenkerin des Wagens, vor dem sie einbog, beschleunigte. «Ich erinnere mich, halblaut zu mir gesagt zu haben: ‹Die hätte jetzt nicht zu beschleunigen brauchen›. Es war knapp. Aber es schien mir nicht zu knapp.» Sie habe nicht bemerkt, dass sie beim Einbiegen den Wagen hinter sich gestreift habe. «Die Fahrerin hätte sich ja bemerkbar machen können», fand die Beschuldigte vor Gericht. Sie habe, erklärte sie, die Kratzer an ihrem Fahrzeug denn auch erst am anderen Tag festgestellt, als die Polizei bei ihr zu Hause erschienen sei.

Anklage sagt: Rechts überholt

Für Polizei und Staatsanwaltschaft stand fest, dass die Beschuldigte auf der Autobahn rechts überholt hatte. Im Strafbefehl steht jedoch nichts von der besonderen Verkehrssituation, die zum Zeitpunkt des Vorfalls auf der Autobahn A3, kurz vor der Einmündung in die A1 bei Mülligen, herrschte.

Per Strafbefehl wurde die Beschuldigte wegen Behinderung eines nachfolgenden Fahrzeugs beim Fahrstreifenwechsel auf der Autobahn; wegen Rechtsüberholen auf der Autobahn sowie wegen pflichtwidrigen Verhaltens nach Verkehrsunfall ohne Personenschaden zu einer bedingten Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 100 Franken, einer Busse von 2100 Franken sowie zur Übernahme von Kosten von insgesamt 1510 Franken verurteilt. Weil die Beschuldigte Einsprache erhob, hatte sich Bezirksgerichtspräsidentin Franziska Roth als Einzelrichterin mit dem Vorfall zu befassen.

Der Verteidiger beantragte, seine Mandantin sei vollumfänglich von Schuld und Strafe freizusprechen. Eventualiter sei sie wegen einer einfachen Verletzung von Verkehrsregeln zu einer Busse von 200 Franken zu verurteilen. Die Kosten seien der Staatskasse zu belasten. «Meine Mandantin hat sich nicht strafbar gemacht», betonte der Verteidiger. «Entscheidend ist die Verkehrssituation.»

Der Verteidiger legte einen Plan des Bundesamts für Strassen (Astra) vor, aus dem die damalige Situation mit der Baustelle und der Fahrbahnverengung hervorgeht. «Die Skizze der Kantonspolizei ist falsch», betonte er. Zum Vorwurf des Rechtsüberholens verwies er auf einen Entscheid des Bundesgerichts, das in einem vergleichbaren Fall zum Schluss gekommen war, dass das Rechtsvorbeifahren zulässig sei. «Meine Mandantin fuhr vorsichtig rechts an der Kolonne vorbei und suchte eine Lücke», erklärte er «Ihre Aussagen sind glaubwürdig. Es liegt kein Rechtsüberholen vor.»

Reissverschlussprinzip verweigert

Ebenso wenig sei seiner Mandantin eine Behinderung vorzuwerfen, betonte er. Es sei gar nicht abgeklärt worden, ob es überhaupt zu einer Behinderung gekommen sei. Durch das Beschleunigen habe vielmehr die Lenkerin des anderen Autos die Anwendung des Reissverschlussprinzips verweigert.

«Ein Verzicht auf den Vortritt wäre hier angezeigt gewesen», stellte er fest. Auch der Vorwurf des pflichtwidrigen Verhaltens gehe fehl, erklärte der Verteidiger. Seine Mandantin habe die Kollision nicht bemerkt und sie sei durch die Lenkerin des anderen involvierten Autos nicht darauf aufmerksam gemacht worden.

Das Gericht folgte weitgehend den Anträgen der Verteidigung. Es sprach die Beschuldigte vom Vorwurf des Rechtsüberholens sowie des pflichtwidrigen Verhaltens frei. Wegen einfacher Verletzung von Verkehrsregeln wurde die Beschuldigte zu einer Busse von 300 Franken verurteilt. Die Verfahrenskosten werden zu zwei Dritteln der Staatskasse belastet.

«Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Beschuldigte rechts vorgeprescht ist», erklärte Gerichtspräsidentin Roth. «Die Darstellung der Beschuldigten ist glaubhaft. Das Vorgehen ist zudem gemäss Bundesgericht erlaubt.» Für ein pflichtwidriges Verhalten fehle ein rechtsgenüglicher Beweis. Durch die Missachtung des Vortrittsrechts müsse die Beschuldigte aber wegen einfacher Verletzung von Verkehrsregeln verurteilt werden.