Das Gehen fiel ihr immer schwerer, auf der Arbeit musste sie ihr Pensum kontinuierlich reduzieren. Jetzt sitzt sie im Rollstuhl und hat trotzdem Freude am Leben – das ist die Geschichte von Anna*, die heute im Heimgarten wohnt.
Ihr Rollstuhl ist nicht zu übersehen: Aufgemalte Buntstifte in Regenbogenfarben zieren die Scheiben zwischen den Speichen. Es ist der Ausdruck von Lebensfreude, die auch Anna eigen ist. Die 37-Jährige hat trotz ihres Schicksals nie die Freude am Leben verloren.
Jetzt sitzt sie am Tisch in einem Büro des Heimgartens, mit Bluse und einem feingestrickten Pullunder drüber. Sie strahlt über das ganze Gesicht. Ihre Augen leuchten förmlich, als sie der Journalistin ihre Geschichte erzählt.
Sie mag es fröhlich in ihrem Leben. Darum erzählt sie lieber von den vielen Festen, die sie im Heimgarten bisher erlebt hat. Vom Samichlaus-Abend zum Beispiel. Dann, wenn alle Bewohnerinnen und Mitarbeiterinnen an einem grossen langen Tisch sitzen, Fondue essen und sich an dem gemütlichen Abend freuen. Und dann gibt es erst noch für jede ein Chlaus-Säckli. Anna schwärmt weiter. Von der Adventszeit. «Da können wir jeden Abend eine Geschichte hören. Das ist schön», erzählt sie. «Das schätze ich sehr. Hier geben sich alle so fest Mühe.» Und während sie so voller Freude erzählt, kullert ihr eine einsame Träne über die linke Wange, die sie verstohlen wegwischt.
Ihre unbändige Lebensfreude täuscht darüber hinweg, dass in Annas Leben längst nicht alles so voller Freude ist, wie man denken könnte.
Der Heimgarten Brugg bietet Frauen mit psychosozialen Schwierigkeiten Lebens- und/oder Beschäftigungsraum an. Der Heimgarten ist vom Kanton Aargau anerkannt und hat Anspruch auf dessen Mitfinanzierung. Die Trägerschaft ist die Reformierte Landeskirche Aargau. Insgesamt bietet der Heimgarten 36 Wohn-, 20 Beschäftigungs- und 4 geschützte Arbeitsplätze an. Am 15. April feierte er sein 40-jähriges Bestehen. Mit diesem Artikel beenden wir die Serie zum Heimgarten. (jam)
Vor einigen Jahren merkt Anna, dass sie Probleme beim Gehen hat. Kaum merklich, aber das Gefühl ist immer da, dass etwas nicht stimmt. Sie lässt sich vom Arzt untersuchen, muss eine Kernspintomografie machen. Ein Neurologe findet dann heraus, dass Annas Nerven im Rücken langsam aber sicher absterben. Ein Gendefekt. Sie muss für Abklärungen ins Spital. Operiert wird sie nie. Es bringt nichts, sagen die Ärzte.
Trotz allem: Für Anna bricht keine Welt zusammen. «Am Anfang machte ich mir schon Gedanken», erinnert sie sich. «Aber ich war froh, dass ich überhaupt eine Diagnose hatte, dass ich wusste, woran ich leide.»
Zuerst arbeitet sie noch normal weiter, als Hilfskraft in einem Lebensmittelgeschäft. Dann muss sie ihr Pensum immer weiter reduzieren, bis es gar nicht mehr geht. Da stellt sich erstmals die Frage: Was tun mit Anna?
Sie entscheidet sich gemeinsam mit ihren Eltern dazu, mal im Heimgarten reinzuschnuppern. Sie braucht nicht lange, um sich zu entscheiden, was sie will. Anna bleibt im Heimgarten.
Damit sie wie alle anderen an den Ausflügen teilnehmen kann, ist sie jetzt auf einen Rollstuhl angewiesen. Gehen kann Anna zwar noch, aber nur langsam. Und manchmal auch nur unter Schmerzen, wenn sich ihre Knie aneinander scheuern.
Der Anfang ist schwierig für Anna. Sie muss lernen, mit dem Rollstuhl umzugehen. In der Physiotherapie hat sie das nach und nach gelernt. Jammern mag sie nicht. «Ich werde nie aufgeben oder die Lebensfreude verlieren», erklärt Anna mit Nachdruck. Klar habe sie auch mal schlechte Tage. Aber dann schaut sie sich um und merkt, dass es andere noch schwerer haben als sie. Und in diesen Momenten «möchte ich einen Zauberstab hervornehmen und ein paar Mal schwingen, damit es allen wieder gut geht», sagt sie in ihrer gutmütigen, etwas kindlichen Art. «Jammern nützt nichts, denn das braucht viel Energie. Energie, die man für schöne Dinge brauchen soll.»
Die Kraft für ihr Leben zieht die zierliche Frau aus der Natur. «Die Natur ist zäh», sagt Anna. «Es kann ein noch so strenger Winter sein – im Frühling spriessen die Blumen wieder. Das bewundere ich sehr.» Dann, wenn im Sommer die letzten Sonnenstrahlen auf der Aare glitzern und die Bäume in goldenes Licht tauchen – dann ist Anna glücklich.
Die Feste, die im Heimgarten gefeiert werden, hängen stark mit diesen Erlebnissen zusammen. Zum Beispiel die 1.-August-Feier. Dann sitzen die Frauen im Garten, unter den vielen bunten Lampions und geniessen das Fleisch vom Grill. Darum sagt Anna: «Die Feste hier, die vergisst man nicht.»
Und es sind die Feste, die Anna aufmuntern, ihr Freude geben und sie an die Zukunft glauben lassen. An Zielen fehlt es ihr jedenfalls nicht. Sie will häufiger mit dem öffentlichen Verkehr unterwegs sein. Und – das ist ja klar – sie will ihr Leben weiterhin einfach geniessen.
Name der Redaktion bekannt