Der Brand in einer deutschen Behindertenwerkstatt mit 14 Todesopfern löst in Aargauer Institutionen Betroffenheit aus. Obwohl regelmässig für den Ernstfall geübt wird, stellt die Evakuierung von Menschen mit Behinderung eine Herausforderung dar.
Bei einem Brand in einer Behindertenwerkstatt in Titisee-Neustadt (D) 50 Kilometer von der Schweizer Grenze entfernt sind am Montag mindestens 14 Menschen ums Leben gekommen. Die Werkstätte dürfte für längere Zeit geschlossen bleiben. Das Arbeits- und Wohnzentrum AWZ in Kleindöttingen hat umgehend seine Hilfe angeboten, wie Geschäftsführer Roger Cavegn gegenüber der Aargauer Zeitung sagt.
«Bei uns hat es aktuell zwei Plätze frei, und wir sind sehr gerne bereit, Klienten aus Titisee-Neustadt bei uns aufzunehmen, bis sie wieder einen festen Platz haben», sagt Cavegn. «Auch in unserer Werkstatt arbeiten Menschen mit geistiger Behinderung. Daher haben wir die gleichen Aufgaben und beste Voraussetzungen. Wir haben mit Caritas in Freiburg Kontakt aufgenommen und unsere Hilfe angeboten.»
Der Brand sei im AWZ Gesprächsthema Nummer 1, sagt Roger Cavegn. «Wir alle haben uns Gedanken gemacht, wie gut wir vor solch einem Unglück geschützt wären. Momentan sind wir noch in den älteren Gebäuden untergebracht, und wir müssen sehr vorsichtig und achtsam sein», sagt Cavegn.
Im Notfall enge Betreuung nötig
Jedes Jahr finde eine Übung statt, an der alle Mitarbeiter teilnehmen. «Dort frischen wir unsere Kenntnisse auf, wie wir uns zu verhalten haben, welche Wege wir im Brandfall gehen können und wie wir uns generell einer solchen Situation stellen müssen.» Behinderte Menschen bräuchten, gerade in einer solchen Notfallsituation, eine sehr enge Betreuung und Begleitung, erklärt Cavegn weiter.
Nächstes Jahr findet der Spatenstich für einen Neubau des AWZ in Kleindöttingen statt. «Bei der Planung habe ich mich immer wieder gefragt, ob denn diese vielen detaillierten Vorschriften zum Brandschutz wirklich nötig sind», erzählt Cavegn. «Der Brand in Titisee-Neustadt hat uns nun gezeigt, dass es nicht zu viel Schutzmassnahmen geben kann.»
Mitarbeiter jedes Jahr geschult
Die Betroffenheit sei gross, sagt auch Robert Schibler, Bereichsleiter Wohnen und Tagesstätten bei der arwo (arbeiten und wohnen Stiftung für Behinderte) in Wettingen. Er hat sich Gedanken zur Sicherheit gemacht. «Die Feuerwehr hat bei uns zusammen mit den Bewohnern und dem Personal bereits Evakuations-Übungen durchgeführt. Das könnte im Notfall ein grosser Vorteil sein, Feuerwehrleute und Bewohner haben sich schon einmal gesehen und kennen gelernt.»
Die Mitarbeiter des arwo im Wohn- wie im Werkstattbereich werden jedes Jahr für einen Brandfall geschult. «Sie lernen, welche Fluchtwege es gibt und in welche Brandabschnitte unsere Gebäude unterteilt sind.»
Den Brand in Titisee-Neustadt als «absolut tragisch» bezeichnet Rainer Hartmann, Geschäftsführer der «Stiftung für Behinderte Region Brugg-Windisch». «Wir tun alles, um das Risiko zu minimieren: Unsere Brandschutzmassnahmen und Brandmelder sind auf dem neusten Stand», sagt er. Einmal im Jahr werde ein Brandszenario durchgespielt und geübt. «Die Verantwortung liegt im Brandfall vor allem bei den Gruppenleitern. Sie sind gefordert und müssen noch einmal in alle Ecken schauen und die Klienten nach draussen begleiten.»
Räumlichkeiten kennen
Jean-Paul Schnegg, Geschäftsleiter der Stiftung für Menschen mit einer Behinderung im Fricktal (MBF), hat vom Brand mit Betroffenheit Kenntnis genommen. Wie wappnet sich die MBF gegen ähnliche Katastrophen? «Wir sind sicher gut aufgestellt», so der Geschäftsleiter, «unsere Gebäude haben viele Ausgänge und sind mit Brandmeldern ausgestattet, die direkt mit der Feuerwehr verbunden sind.»
Zudem gebe es auch in der MBF regelmässig Übungen mit den lokalen Feuerwehren. «Wir haben schon Evakuationsübungen durchgeführt», so Schnegg. Aber auch Kaderübungen ohne Einbezug der Menschen mit einer Behinderung gehören zum Präventionsplan. «Es ist wichtig, dass die Rettungskräfte die Gegebenheiten vor Ort kennen», führte Schnegg aus.
Notfallpläne und Kontrollen
«Grundsätzlich verhalten sich Menschen mit einer Behinderung im Katastrophenfall wohl nicht anders als jeder Normalbürger, nämlich irrational», ist der Geschäftsleiter überzeugt. «Die einen geraten in Panik, andere sind eher wie gelähmt.» Er räumt allerdings ein, dass sich die Rettungskräfte den Umgang mit Menschen mit einer Behinderung weniger gewohnt seien. «Doch auch unsere Betreuer sind geschult. Es gibt Notfallszenarien. Zuerst steht die Auslösung des Alarms im Vordergrund, dann die Evakuierung.»
Als weiteren Präventionsgrundsatz führt Jean-Paul Schnegg an, dass in der Stiftung MBF möglichst ohne gefährliche Materialien gearbeitet werde. «Sollte es doch einmal unumgänglich sein, führen die Gruppenleiter oder Betreuer die Arbeiten aus.» Eine Institution von der Grösse der MBF werde auch immer wieder von Behördenseite kontrolliert.
Direkt auf die Brandkatastrophe in Deutschland müsse man bei der Stiftung MBF nicht reagieren, ist sich Jean-Paul Schnegg sicher. «Wir werden in der Geschäftsleitung aber sicherlich diskutieren und die Notfallpläne erneut überprüfen», so der Institutionsleiter weiter, und er wiederholt: «Wir sind in Sachen Sicherheit gut aufgestellt, gefeit vor Unglücksfällen ist man aber nie.»
«Evakuierung wäre eine Herausforderung»
Die Stiftung azb in Strengelbach und die Arbeits- und Wohngemeinschaft Borna in Rothrist setzen beim Brandschutz auf bauliche Massnahmen. Die Gebäude des azb verfügen über einen Vollschutz. «Die Räume werden elektronisch überwacht und eine Brandentstehung kann so sehr früh detektiert werden», erklärt Andi Siegrist, Bereichsleiter Wohnen und Sicherheitsbeauftragter der Stiftung azb. Wird eine der sogenannten Rauchnasen ausgelöst, fallen in den betroffenen Bereichen Brandschutztüren zu. Personen können so bis zu einer Stunde vor Rauch und Feuer geschützt werden.
Gleichzeitig gehen auf den Telefonen geschulter Mitarbeiter Alarmierungen ein. An der Brandmeldeanlage können die Mitarbeiter eruieren, wo sich der Schadensort befindet und diesen kontrollieren. Handelt es sich um einen Brand, wird die Feuerwehr alarmiert. Ähnlich sieht es in der Borna in Rothrist aus. Das gesamte Gebäude verfügt über eine Brandschutzanlage, alle Räume haben Brandmelder und auch hier gibt es Brandschutztüren, die sich im Ernstfall automatisch schliessen.
Schulungen und Ernstfall-Übungen
Neben den baulichen Massnahmen erhält auch hier die Schulung der Mitarbeiter einen hohen Stellenwert. Beide Institutionen bieten regelmässig Schulungen an. In der Borna werden zudem dreimal jährlich Evakuierungsübungen mit den Betreuten durchgeführt. «Und mindestens viermal im Jahr werden mit den Betreuten bewusst die Notausgänge benutzt», sagt Christine Lerch, Gesamtleiterin der Borna. «Damit sie diese Wege kennen und präsent sind.»
In Abständen von rund vier Jahren wird mit der Feuerwehr eine Übung des Ernstfalles vorgenommen. Die selbstständige und schnelle Fortbewegung der Betreuten, je nach Behinderung, bezeichnet Christine Lerch als grösste Schwierigkeit bei der Evakuierung. Jede Abteilung in der Borna verfügt deshalb über Notfallrollstühle, damit die Betreuten schnell ins Freie gebracht werden können.
Im azb wird im Zweijahresrhythmus eine grosse Evakuierungsübung durchgeführt. Dabei zeige sich manchmal auch, dass eine Evakuierung mit behinderten Menschen nicht völlig unproblematisch ist. «Wir arbeiten bei den Übungen mit künstlichem Rauch und die Feuerwehrleute tragen ihre Atemschutzausrüstung. Da kann es vorkommen, dass die Behinderten panisch reagieren, weil es für sie schwierig ist, die Situation einzuschätzen», sagt Andi Siegrist.
In diesen Momenten sei insbesondere das Betreuungspersonal gefragt, das versucht, beruhigend auf die Person einzuwirken. «Eine Evakuierung im Ernstfall wäre sicherlich eine Herausforderung, schliesslich bewegen sich gegen 300 Personen in den Gebäuden», weiss Siegrist. Dass es aber auch in einer Schweizer Institution zu einer Katastrophe wie in der deutschen Caritas-Werkstätte kommt, hält er für fast ausgeschlossen. «Dafür sind die Brandschutzvorschriften in der Schweiz zu hoch reglementiert.»