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Die Gemeinde Spreitenbach fordert einen ausgesteuerten 61-jährigen Mann auf, bereits schon früher bezogene Sozialhilfegelder zurück zu zahlen – mit seiner Pensionskasse. Der arbeitslose Mann hat Existenzängste.
Im April 2012 wird Hans M. aus Spreitenbach im Alter von 58 Jahren von seinem Arbeitgeber entlassen. Vier Jahre hatte er in der Spedition eines Elektronikhändlers gearbeitet. Dann wurde die Abteilung automatisiert. Seither sucht er eine neue Stelle, erfolglos.
Jedes Mal, wenn sich der heute 61-jährige Hans M. aus Spreitenbach (er will unerkannt bleiben) bewirbt, bekommt er dieselbe Antwort: zu alt, zu teuer und ohnehin nicht mehr belastbar. Die Folge: Hans M. wird nach zweijähriger Arbeitslosigkeit ausgesteuert.
Als er sich bei seiner Wohngemeinde meldet, verweigert diese sämtliche Sozialhilfe-Zusprüche. Das berichtet der «Kassensturz».
Laut Bericht argumentiert die Gemeinde, Hans M. könne ja von seinem Pensionskassen-Kapital leben – also von jenem Geld, das für die Zeit nach der Pensionierung bestimmt ist, um im Alter – zusammen mit den AHV-Geldern – sorgenfrei leben zu können.
Seit dem Entscheid lebt Hans M. von seinem Altersbatzen, der nun von Monat zu Monat schrumpft. Der Spreitenbacher spart, wo er kann, kauft nur noch Aktionen, verzichtet auf Restaurantbesuche.
Er macht sich grosse Sorgen, dass das Geld nicht reichen könnte, bis er mit 63 Jahren die noch übrigen AHV- und Ergänzungsleistungen beziehen kann.
Gemeinde profitiert bei frühem Bezug
Dass Gemeinden ältere Arbeitslose dazu drängen, ihr Altersguthaben zu beziehen, um das Gemeinde-Budget zu entlasten, kommt immer häufiger vor.
Laut Gesetz ist es zwar möglich, das Altersguthaben fünf Jahre vor der Pensionierung zu beziehen. Ob das aber Sinn macht, ist umstritten. Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (Skos) empfiehlt den Bezug erst ab 63 Jahren, zusammen mit der AHV.
Wenn Sozialhilfebezüger ihr Pensionskassengeld bereits mit 60 Jahren beziehen, profitiert davon vor allem die Gemeinde, erklärt Andreas Hediger gegenüber «Kassensturz»: «Wenn man jemanden dazu bringt, sein Freizügigkeitskonto aufzulösen und davon zu leben, dann reduziert das die Ausgaben bei der Sozialhilfe und den Aufwand der jeweiligen Gemeinde.»
Sozialhilfebezüge zurückgefordert
Spreitenbach ging laut «Kassensturz» sogar noch einen Schritt weiter: Die Gemeinde lehnte nicht nur Sozialhilfe-Zusprüche ab – sie forderte Hans M. auf, bezogene Sozialhilfegelder zurück zu zahlen: In den Jahren 2005 bis 2007 hatte Hans M. Sozialhilfe bezogen und an einem Beschäftigungsprogramm teilgenommen. Die Gemeinde schlug vor, die Bezüge mit einer einmaligen Zahlung von 5000 Franken zu begleichen.
Auf diese Forderung folgte umgehend eine weitere: Die Gemeinde legte ihm einen sogenannten Abtretungsvertrag zur Unterzeichnung vor. Gestützt darauf sollte Hans M. der Gemeinde Spreitenbach für ausstehende Steuern 24'593 Franken bezahlen und für die Rückerstattung von Sozialhilfe 33'966 Franken. Total also 58'559 Franken. Fast die Hälfte seines Pensionskassenguthabens.
Hans M. wurde eigenen Aussagen zufolge unter Druck gesetzt, das Papier zu unterschreiben. «Der Mitarbeiter vom Steueramt sagte, er könne mir auch 90'000 Franken abnehmen, wenn ich nicht unterzeichne.»
Wann aber darf eine Gemeinde überhaupt Sozialhilfebezüge zurückfordern? Diese Frage ist kantonal geregelt, im Aargauer Sozialhilfe- und Präventionsgesetz, Artikel 20, steht:
Im Gegensatz zur Gemeinde Spreitenbach hält Sozialversicherungsexperte Ueli Kieser, Rechtsprofessor an der Universität St. Gallen, eine Rückzahlung der Sozialhilfe im Fall von Hans M. für nicht zumutbar, denn der Mann befinde sich in einer schwierigen Lage, habe kein Vermögen und werde wahrscheinlich keine Stelle mehr finden.
Grundsätzlich kritisiert der Sozialversicherungsexperte, dass die Gemeinde in diesem Fall auf die Vorsorgegelder von Hans M. zurückgriff. Ueli Kieser: «Die Praxis in der Schweiz ist eigentlich, dass man Pensionskassenguthaben nicht berücksichtigt, wenn es um das Zurückbezahlen von Sozialhilfe geht. Denn das Pensionskassenguthaben braucht man, um das Alter zu finanzieren.»
Gemeinde ist sich keines Fehlers bewusst
Valentin Schmid, FDP-Gemeindeammann von Spreitenbach, erklärt gegenüber «Kassensturz», die Gemeinde hätte nie von einem Schuldner die Auszahlung von Pensionskassengeldern verlangt.
«Hans M. habe sich bei der Finanzverwaltung gemeldet und erklärt, dass er sich sein Pensionskassenkapital auszahlen lasse und wieder über gute finanzielle Mittel verfüge. Weiter erklärte er gegenüber dem Verwaltungspersonal, dass er in diesem Zusammenhang alle seine Schulden bezahlen möchte.»