Vom Geiste der Landesverteidigung

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Die Sondersendung zur Crypto AG lief gerade auf SRF, da kullerten mir bittere Tränen über das Gesicht. Ich weinte. Nein, ich war in den vergangen 47 Jahren meines Lebens nicht naiv. Nein, ich habe keinen verliebten Blick auf meine Heimat. Und nein, ich dachte nie, die Schweiz sei schöner und reicher, weil fleissiger und schlauer als der Rest der Welt. Im Gegenteil – das ist es ja gerade.

Ein Beispiel dafür? Bei meinen Einsätzen im Auftrag des Europarats in der Ukraine, in Bosnien und Herzegowina oder Albanien bekam ich regelmässig rote Ohren, wenn Interviewpartnerinnen* mir aufgrund meiner Swissness mit verklärtem Blick vorschwärmten, wie vorbildlich, ja geradezu paradiesisch perfekt die Schweizer Demokratie sei. Ich relativierte verlegen. So wunderbar sei das nicht. Die Schweiz sei wie ein riesiger, glatter Verein. In dem jede jeden kennt. In dem man gemeinhin glaubt, Reichtum komme von Fleiss und Schweiss. Ein Ort, wo Geld regiert und wirtschaftlich Erfolgreiche gesellschaftlich mehr Deutungshoheit geniessen. Dazu erzähle ich gerne folgende Anekdote aus meinem Leben: Im Rahmen der Abstimmung zum Aarauer Fussballstadion verstieg ich mich in eine emotionale Diskussion mit einem wohlsituierten Ehepaar. Es war beidseitig kein rhetorisches Ruhmesblatt. Als die Diskussion längst die Faktenlage verlassen und die Ebene der Verschwörungstheorien und Behauptungen erreicht hatte, fragte mich mein Gegenüber: «Bezahlst du eigentlich auch 100000 Franken Steuern?» Auf meine Verneinung hin, belehrte man mich, dass es sich in diesem Falle nicht zieme, die «hohle Hand» zu machen – also fordernd oder gar hartnäckig zu sein. Demokratieverständnis kann echt eine irritierende Sache sein, nicht?

Aber zurück zu #cryptoleaks. In meinen Tränen war auch Gallenflüssigkeit. Mir kam die Galle hoch. Wie oft hörte ich in politischen Debatten das neoliberale Mantra? Das Mantra des barrierefreien Marktes, der teuflischen Steuern, der unnötigen Kontrollen. Weil: Steuern, Kontrollen, Regeln sind schlecht für den Wirtschaftsstandort Schweiz. Und jegliche Bedrohung des Wirtschaftsstandortes Schweiz versetzt Schweizerinnen in eine kollektive Schockstarre. Der Wirtschaftsstandort ist das goldene Kalb der heiligen Kuh in unserem Stall. Und notabene schuften wir alle, glücklich und Schoggi mampfend, im gleichen Stall. An uns klebt der Mief der geistigen Landesverteidigung. Wir Schweizerinnen sind fleissig, fröhlich, froh und stark, frei, wehrhaft, aber natürlich neutral. Wir sind ein homogenes Trüppchen, stehen zusammen und tanzen fröhlich Ringelreihe rund um das Matterhorn. Seit 100 Jahren, über Weltkriege, Wirtschaftswunder und Rezessionen hinweg, wurde uns der Geist der Landesverteidigung eingeimpft.

Der langen Rede kurzer Sinn? Die Crypto AG fand in der Schweiz einen traumhaften Standort: Ein Land mit einer wohlkultivierten Neutralität, bauernschlau, gierig, skrupellos, barrierefrei, flexibel – ja, geradezu elastisch, geschmeidig oder fügsam. Kurz: every­bodys Darling. Schweizerinnen wollen geliebt werden. Streit und Opposition behagen nicht. So wurden die Journalistinnen am Schluss der Sendung gefragt, wieso sie sich entschieden hätten, in dieser alten Geschichte zu wühlen. Uns selber schlecht machen? Geht gar nicht! Man hätte es ja sein lassen, einfach ruhen lassen können, wie ein träger, satter Hefeteig. Ja, hätte man – hat frau aber nicht. Es ist Zeit für eine Emanzipation vom Geiste der Landesverteidigung.

* Männer sind in meinen Texten immer mitgemeint

Lelia Hunziker 46, ist Präsidentin des VPOD AG/SO, SP-Grossrätin und Geschäftsführerin der nationalen Fachstelle FIZ–Frauenhandel und Frauenmigration. Sie wohnt in Aarau.