Aarau
Twitter-Streit im Einwohnerrat: Wie transparent dürfen Abstimmungen sein?

Im Aarauer Einwohnerrat ist eine Diskussion um die Frage entbrannt, wie gläsern das Parlament sein soll. Die SP-Ratspräsidentin massregelte diese Woche einen SVP-Politiker, der ein Abstimmungsergebnis per Foto twitterte. Ein Demokratie-Professor wiederum kritisiert nun die Haltung der Ratspräsidentin.

Nadja Rohner
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Was darf man aus dem Einwohnerrat publizieren? Simon Burger (SVP) und Lelia Hunziker (SP) sind sich nicht einig.

Was darf man aus dem Einwohnerrat publizieren? Simon Burger (SVP) und Lelia Hunziker (SP) sind sich nicht einig.

Zur Verfügung gestellt

Soll eine Kommission des Aarauer Einwohnerrats das Keba-Debakel selber untersuchen? Ja – das sagen die SVP und ihr Einwohnerrat Simon Burger. Nein – das sagen die SP und ihre Ratspräsidentin Lelia Hunziker. Die beiden sind aber nicht nur in diesem Punkt unterschiedlicher Meinung, sondern auch über die Öffentlichkeit der Abstimmung.

Der Einwohnerrat tagt im Grossratssaal und nutzt seit 2016 dessen elektronische Abstimmungsanlage. Wo man früher noch sah, wer für Ja und wer für Nein aufstand, blinken jetzt auf den Bildschirmen rote und grüne Lämpchen . Ratsmitglied Simon Burger (SVP) fotografiert mitunter diese Ergebnisse und postet sie auf Twitter. Inklusive Kommentar. Am Montag etwa: «Einwohnerrat Aarau lehnt Parl. Untersuchung des Keba-Debakels ab. Einzig SVP und Grüne dafür. Wer hat was zu befürchten?»

Später dann: «Vom Einwohnerratspräsidium Aarau gemassregelt, dass Abstimmungsresultate nicht fotografiert werden dürfen. Steht nirgends, intransparent!»

Ratspräsidentin Lelia Hunziker hatte Simon Burger in der Pause auf seine Tweets angesprochen und ihm – das behauptet Burger – verboten, die Abstimmungsergebnisse zu fotografieren. Auf Twitter entbrannte daraufhin eine Diskussion, in der SP-Politiker ihre Parteikollegin Hunziker verteidigten und Vertreter von SVP und FDP mehr Transparenz forderten.

Wer hat nun Recht?

Die «Schweiz am Wochenende» hat Andreas Glaser, Direktor des Zentrums für Demokratie Aarau, um eine Einschätzung gebeten. Laut Glaser kann die Ratspräsidentin ein Ratsmitglied zur Ordnung rufen, wenn er gegen die parlamentarischen Regeln verstösst. Etwa, wenn die Twitter-Aktivitäten den Ratsbetrieb stören, geheime Sachverhalte verraten oder die Persönlichkeit der anderen Ratsmitglieder verletzen würden.

«Die blosse fotografische Übermittlung der Abstimmungsergebnisse stellt aus meiner Sicht keine Verletzung der parlamentarischen Regeln dar», so Glauser. «Im Gegenteil: Die Gemeindeordnung bestimmt, dass die Abstimmungen im Einwohnerrat offen erfolgen. Es ist daher völlig unproblematisch, sogar erwünscht, wenn in den Medien berichtet wird, wer wie abgestimmt hat. Warum das ein Ratsmitglied nicht direkt verbreiten dürfen soll, erschliesst sich mir nicht.»

Zwar könne unter Umständen die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden, dann dürften Abstimmungsresultate nicht getwittert werden. «Das ist aber nur im absoluten Ausnahmefall zulässig.»

«Kein explizites Verbot»

Auf Anfrage betont Ratspräsidentin Lelia Hunziker, sie habe kein explizites Verbot ausgesprochen, sondern ihr Missfallen ausgedrückt: «Wenn man genau festhalten will, wer wie abstimmt, muss ein Antrag auf Abstimmung mit Namensaufruf gestellt werden. Dazu braucht es die Zustimmung von mindestens 25 Prozent der anwesenden Räte. Durch das Abfotografieren und Veröffentlichen des Ergebnisses wird diese Hürde ausgehebelt.» Zudem gebe es zwar eine Sitzordnung, die aber nicht immer strikte eingehalten werde. Sprich: Wer genau hinter einem grünen oder roten Punkt steckt, lässt sich im Nachhinein nicht mit Sicherheit feststellen.

Auf Bundes- und Kantonsebene ist das Publizieren der Abstimmungsergebnisse durch Medien oder Räte kein Problem. Im Grossen Rat, der ja im selben Saal tagt, darf alles fotografiert und verbreitet werden. Die Aargauer Zeitung bindet Fotos der Abstimmungsergebnisse jeweils in ihren Liveticker ein.

Unterschiedliche Regelungen

Bei anderen Einwohnerräten im Aargau hat sich das Problem noch nie gestellt. Nur wenige Mitglieder twittern aus dem Saal, und ausser in Aarau nutzt niemand eine elektronische Abstimmungsanlage, deren Ergebnisse man leicht fotografieren könnte. Zu Fotoaufnahmen gibt es in einigen Gemeinden Bestimmungen im Ratsreglement. In Buchs bräuchte es theoretisch einen Einwohnerratsbeschluss, bevor Bilder gemacht werden dürfen. In Wohlen scheint man es locker zu nehmen; jedenfalls reklamiert niemand, wenn der Journalist die Einwohnerräte bei der Abstimmung fotografiert. In Baden wurde einst ein Video-Verbot aus dem Einwohnerrat diskutiert, dies in der ersten Sitzung nach «Geri-Gate». In Zofingen muss die Ratspräsidentin ihre Erlaubnis für Fotos erteilen, was aber reine Formsache ist.

In Aarau gibt es keine Bestimmung gegen Fotos im Ratssaal. Allerdings kann das Präsidium gewisse Regeln aufstellen, gegen die der Rat mittels Ordnungsantrag opponieren könnte. Noch ist das nicht verbindlich geschehen, es gibt keine «Lex Hunziker». Lelia Hunziker, die seit rund 12 Jahren im Einwohnerrat sitzt und in den nächsten vier Jahren möglicherweise in den Grossen Rat nachrutscht, findet es aber nach wie vor nicht richtig, dass detaillierte Abstimmungsergebnisse verbreitet werden. Selbst wenn das auf Bundes- und Kantonsebene üblich ist

Nähe im Einwohnerrat

«Im Einwohnerrat hat man eine andere Nähe zueinander. Wir politisieren auf dem kleinen Platz Aarau, sind Kolleginnen und Kollegen die zusammen für Aarau hin- und einstehen. Die Sitzung ist öffentlich, wer sich für die Debatte interessiert ist jederzeit herzlich willkommen.» Hunziker betont, grundsätzlich begrüsse sie «die Reflexion und Diskussion über neue Kommunikationskanäle und deren Einfluss auf die politische Arbeit».

Demokratie-Professor Glaser ist von der Argumentation der Ratspräsidentin nicht überzeugt. «Vor dem Hintergrund dieser Vorfälle wäre ratsam, wenn der Einwohnerrat eine klare Regelung erlassen würde – und zwar dahingehend, dass alle Abstimmungen nachvollzogen werden wie im Nationalrat. Das entspräche dem heutigen demokratischen Standard an Transparenz.»