Theater
Tuchlaube-Kelling: «Ich arbeite mit Aargauern für Aarau»

Seit Januar leitet Peter-Jakob Kelting das Theater Tuchlaube in Aarau. Nun startet seine erste, selbst organisierte Saison.«Ich will zeigen, wer für dieses Theater steht», sagt Kelling.

Christian Berzins
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Theatermann Peter-Jakob Kelting lebt halb in Zürich und halb in Aarau.

Theatermann Peter-Jakob Kelting lebt halb in Zürich und halb in Aarau.

Chris Iseli

Herr Kelting, wie war Ihr Sommer?Peter-Jakob Kelting: Meine Frau und ich blieben in der Schweiz, machten Tagesausflüge, unter anderem waren wir im Oberengadin. Es war eine sehr schöne Zeit, in der ich aber auch oft in Aarau war.

Sind Sie denn bereits von Zürich nach Aarau gezogen?

In wohne mittlerweile in Zürich und in Aarau! Ich will in der Stadt, in der ich arbeite, aufwachen, Brötchen kaufen und Kaffee trinken. Aber meine Frau ist Schauspielerin am Schauspielhaus Zürich. Es wäre unsinnig, wenn sie zwischen den morgendlichen Proben und den Aufführungen von einer Stadt in die andere pendeln müsste.

Ihre sommerliche Theaterbeschäftigung fand demnach im Tuchlaube-Büro anstatt an den Theaterfestivals in Avignon oder Zürich statt?

Die grossen Festivals habe ich dieses Jahr geschwänzt. Aber Aarau war im Sommer erstaunlich lebendig, das war schön. Und es gab nun mal viel zu tun: Unsere Werbelinie ist neu, wir haben Co-Produktionen, dann spielen wir auch ausser Haus – das alles ist mit viel organisatorischem Aufwand verbunden. Und es war für mich wichtig, die Region kennen zu lernen. Für mich galt es zu fragen: Was sind hier die Reizpunkte, welche Wünsche gibt es? Aber ich muss schon wieder raus, um zu sehen, was die Theaterkollegen machen.

Sie sind also kein Festivalmuffel?

Überhaupt nicht, ich habe ja selbst mal ein Festival organisiert. Festivals sind ein beglückender Ausnahmezustand: Da lebt, fühlt, schmeckt und träumt man Theater! Da kann ein Theaterleiter in kurzer Zeit interessante Dinge sehen, die aktuellen Tendenzen beobachten und viele Leute treffen. Das inspiriert und lässt mich einiges neu einordnen. Ein Festival ist die aktuelle Auslegeordnung des internationalen Theaterschaffens und lässt erkennen, in welchem Kontext wir hier in Aarau arbeiten. Unsere Basis ist lokal, auch wenn die Grenze nicht die Stadtmauern sind.

Muss man die internationale Theaterwelt und Ihr Tuchlaube-Schaffen so deutlich trennen?

Sie haben Recht, so gross ist der Unterschied auch nicht. Entscheidend ist, dass ein Werk mit mir kommuniziert – ob es aus Kenia oder Aarau stammt, ist egal. Aber Festivals sind Ausnahmesituationen, da sich dort ein Zuschauer viel offener auf ein Stück einlässt. Er weiss: Ich muss nicht alles verstehen – weder die Sprache noch die Theaterform. Während der Saison herrscht eine andere Erwartungshaltung und die Kategorie des Verstehens spielt eine grosse Rolle. Ich muss einen Anknüpfungspunkt haben.

Der Tuchlaube-Zuschauer soll wissen, warum Sie etwas spielen.

Genau, ich muss der Beliebigkeit eine Notwendigkeit entgegenstellen. Ich fühle eine Verantwortung herauszubekommen, warum eine Produktion notwendig ist und warum sich das in einen Kontext, der hier Aarau heisst, überträgt. Der schöne Spruch, global denken, lokal handeln, ist auch fürs Theater interessant. Ich träume von einem Theater in Augenhöhe: Das heisst, dass wir unsere Zuschauer als Gesprächspartner wahrnehmen.

Wie viele Theaterabende sehen Sie pro Jahr?

Zwischen 100 und 140 Abenden, dazu gehören auch Besuche in Zürich, Basel, München und immer wieder in meiner Heimat Hamburg.

Sehen Sie auf den grossen Bühnen einen Trend?

Der Generaltrend geht dahin, dass die Regisseure die Geschichten nicht mehr dekonstruieren oder zerschlagen, sondern dass sie nach Erzählformen suchen. Weniger spannend finde ich eine Untertendenz von Regisseuren der zweiten Generation Poptheater, der Epigonen eines Stefan Bachmanns, aus allen Stücken Fernsehshows zu machen. Da unterhält man das Publikum auf eine vermeintlich kritische, aber schliesslich zynische Art – da geht es um effektvolle Gesten. Diese lautstarke Denkfaulheit interessiert mich nicht.

Zurück nach Aarau: Wie nahmen Sie das Theater Tuchlaube in den letzten Jahren wahr?

Die Tuchlaube ist ein Haus, das viel probiert, sie ist ein wichtiger Ort für die freie Szene der deutschsprachigen Schweiz. Es gibt drei Bereiche: das gut funktionierende Kinder- und Jugendtheater, kleinere Produktionen, die aus der Kleinkunst kommen, und dann avanciertere Projekte, die man in Co-Produktion mit anderen Theaterhäusern produziert. Ich hatte in den letzten Jahren den Eindruck, dass diese Ausrichtung auseinanderfällt, auch wenn sie ein Strukturmerkmal der Tuchlaube ist. Doch wo ist das Profil? Wo steht das Haus? Das war von aussen nicht mehr klar.

Sie wollen Klarheit schaffen.

Ja, und ich will zeigen, wer für dieses Theater steht. Wir haben bekanntlich kein Schauspielerensemble, und somit brauchen wir andere Identifikationsangebote. Diese Aufgabe muss ohne Zweifel das Leitungsteam übernehmen. Wir sind in einer Kleinstadt, die Wege hier sind kurz und ich habe gesehen, dass sie auch über den Kulturkuchen hinaus begehbar sind. Zudem müssen wir Identität über Inhalte schaffen – nicht über Formen, wie man es etwa an der Zürcher Gessnerallee tun muss.

Die Tuchlaube war bis anhin das Theater der Aarauer, wird sie nun das Theater der Aargauer?

Das ist eine grosse Aufgabe. Auf der Produktionsseite sind wir für den Aargau bereits sehr wichtig, ich suche auch die Verbindungen nach Baden, wie etwa mit dem ThiK. Von den Besucherströmen bin ich Realist genug zu sagen, dass von Baden nicht so viele Otto Normalzuschauer zu uns kommen werden. Das ist ein Phänomen von Aarau: Wir sind ein Zentrum, das von vier Regionen umgeben ist, die diese Stadt aber nicht als Zentrum sehen. Ich arbeite mit Aargauern für Aarau – mein Publikum sind die 20000 Einwohner der Stadt, hinzu kommen die Zuschauer aus der Umgebung. Die regionale Verankerung ist die Basis von allem. Ich werfe einen Stein ins Wasser und die Wellen sollen möglichst weit gehen, obwohl den Berlinern egal sein kann, was hier geschieht.

Den Hang zur internationalen Beachtung strebt wohl eher das Churer Theater an.

(lächelt) Dort steckt eine gewisse Überwältigungsstrategie dahinter. Meine Erfahrung mit den Schweizern ist, dass sie sich nicht so gerne überwältigen lassen.

Ihr Vorgänger Dieter Sinniger arbeitete sieben Jahre in der Tuchlaube. Wie lange wollen Sie bleiben?

Ich habe mir keinen Zeithorizont gegeben. Ich bin 52, da geht mein Ehrgeiz nicht dahin, dass ich die Theaterwelt von hinten aufrollen sollte. Ich möchte lieber an einem Ort gut arbeiten, ihn kennen lernen und über Kontinuität funktionieren.

Verlockend ist die Aussicht auf eine neue Aarauer Bühne ab 2016, auf den «Oxer», der in die Alte Reithalle hineinkommen soll.

Das stimmt, aber diese Bühne ist nicht mein persönliches Ziel, sondern eines, das sich der Kanton und die Stadt gesetzt haben: Spannend ist die Situation des Übergangs. Das, was jetzt in der Alten Reithalle zu sehen ist, sollte spannend genug sein, dass die Menschen in der Region den Entwicklungsprozess mittragen. Und mit der Aussicht auf den Oxer gibt es auch für jüngere Theaterschaffende ganz andere Anreize. Es gibt nämlich viele Aargauer, die selbst in London Theater machen, nur sind sie noch nie auf die Idee gekommen, dass man sich wieder mal auf den Aargau beziehen könnte. Da will ich Anreize geben – und zwar nicht erst ab 2016.

Wo stehen wir mit der Planung des Oxers, dieser «mittleren» Aargauer Bühne?

Bis 2016 sind verschiedene Schritte zu unternehmen. Die Bauplanung geht nun ihren Gang, eben ist der Wettbewerb ausgeschrieben worden. Der Kanton, in allen seinen Organen, und die Stadt stehen hinter dem Projekt. Aber das Investitionsvolumen, das der Umbau erfordert, ist so hoch, dass es eine kommunale Volksabstimmung geben muss. Im Hinblick auf diesen Meinungsbildungsprozess ist die Tuchlaube nur ein Junior-Partner der Theater- und Tanzschaffenden aus dem Kanton. Wir öffnen dafür aber diesen Raum, damit die Leute sagen: «Wow, das ist ein superschönes Projekt!» Bisher ist das Projekt Oxer, auch in den Medien, nur als Kostenfaktor wahrgenommen worden. Weder die künstlerischen noch die kulturpolitischen oder die Stadtentwicklungschancen wurden angemessen gewürdigt. Das treiben wir voran.

Anstatt sich politisch zu äussern, lassen Sie Theater spielen.

Genau. Wir sehen diesen Raum die nächsten zwei, drei Jahre als Nullraum und wollen beweisen, dass in diesen Mauern vieles Platz hat: Das ist ein Schmelzpunkt verschiedenster kultureller Ausdrucksformen. Wir spielten im September drei Projekte und Mai/Juni zwei weitere. Für anderes gibt es noch Budgetverhandlungen, es gilt auch zu sehen, ob die Stadt Aarau diese Entwicklung unterstützen will.