Zofingen/Aarau
Staatsanwalt Burger: «Wir haben das ganze Arsenal der staatlichen Gewalt in unseren Händen»

Der Aarauer Simon Burger ist leitender Staatsanwalt der Bezirke Kulm und Zofingen. Er gibt einen Einblick in seine Arbeit und verrät, wie es im Fall Freddy Nock weiter geht.

Philippe Pfister
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Simon Burger versteht sich nicht als «Winkelried der Gerechtigkeit». (Archivbild)

Simon Burger versteht sich nicht als «Winkelried der Gerechtigkeit». (Archivbild)

Sandra Ardizzone

Als Simon Burger diesen Mittwochabend im ZT-Medienhaus eintrifft, lässt er das Handy im Auto. Für eine Stunde unterbricht er den Pikettdienst, damit er sich den Fragen im Talk stellen kann. «Wenn etwas passiert, klingelt es bei meiner Kollegin», sagt er. Die Tatsache, dass er von einer Minute auf die andere aufgeboten werden kann, mache seinen Job durchaus spannend, meint er. Was ist mit dem häufig geäusserten Vorwurf, manche Straftäter würden mit Samthandschuhen angefasst? Hier hat Burger eine differenzierte Antwort parat, wie der Talk zeigt. Das sagte der oberste Zofinger Strafermittler über ...

... seinen Weg zum Staatsanwalt und seine Rolle als «Sheriff» im Bezirk Zofingen

«Als kleiner Bub wollte ich schon mal Sheriff werden, aber an den Staatsanwalt habe ich nicht unbedingt gedacht», sagt Simon Burger lachend. Er habe die üblichen Traumberufe im Visier gehabt: «Mal Pilot, mal Polizist, mal Lastwagenfahrer.» Ursprünglich habe er geplant, Ökonomie zu studieren. «Im Studium habe ich gemerkt, dass mir die Juristerei mehr zusagt.»

... seine Aufgabe als leitender Staatsanwalt der Bezirke Zofingen und Kulm.

«Wir führen pro Jahr zwischen 6000 und 7000 Strafverfahren.» Darunter sei aber viel «Krimskrams»: «98 Prozent sind kleinere Geschichten; Verkehrsunfälle, kleinere Auseinandersetzungen und Gesetzeswiderhandlungen.» Nur rund ein Prozent der Fälle seien komplexe Strafuntersuchungen, die zur Anklage gebracht werden. «Das Gros der Leute ist mit diesen komplexen Fällen beschäftigt.»

... seinen regelmässigen Pikettdienst.

«Wir haben einen 24-Stunden-Pikettdienst», so Burger. Jeweils eine Staatsanwältin oder ein Staatsanwalt sei immer abrufbereit, und zwar während einer Woche. «Wenn etwas passiert, werden wir von der Polizei verständigt.» Der Dienst sei immer spannend. «Man weiss nicht, was auf einen zukommt.» Während des Talks hat Burger gerade Pikettdienst. Was, wenn das Telefon klingelt? «Jetzt hat gerade die Kollegin übernommen; mein Handy ist draussen im Auto», sagt er.

... den Umgang mit schweren Gewalt- und Sexualdelikten.

Er habe eine gewisse Distanz und Routine entwickelt, so Burger. «Als ich neu war, habe ich zuerst einmal leer geschluckt. Es ist einem nicht bewusst, was alles abgeht.» Wenn ein Staatsanwalt abends die Fälle mit nach Hause nehme und sich darüber den Kopf zerbreche, «dann würde er wahnsinnig werden». Aber: «Es geht nicht immer spurlos an einem vorbei, bei Schicksalsschlägen oder tödlichen Unfällen mit Kindern beispielsweise.»

... aussergewöhnliche Todesfälle, zu denen er als Staatsanwalt regelmässig ausrücken muss.

Wenn eine Person in einer Wohnung oder im öffentlichen Raum tot angetroffen wird und die Todesursache unklar ist, werde unter anderem die Staatsanwaltschaft verständigt. An seinen ersten Todesfall könne er sich gut erinnern. «Man denkt: ‹Hoffentlich breche ich nicht zusammen oder werde ohnmächtig.›» Dann aber habe er professionell funktioniert – so, wie er es gelernt hatte. «Man spult die Checkliste im Kopf ab und macht seine Arbeit.»

... die Frage, ob ein Staatsanwalt noch an das Gute im Menschen glauben kann.

«Ja», sagt Burger. Er sei sich bewusst, dass er es mit einem sehr kleinen Teil der Bevölkerung zu tun habe, der schwere Straftaten begehe: «Wir haben nur einen kleinen Prozentsatz, der dem Teufel vom Karren gefallen ist.»

... lustige Momente im Leben eines Strafuntersuchers.

Diese gebe es durchaus, sagt Burger. In St. Gallen habe er einmal ein Strafverfahren gegen einen Alkoholiker geführt, der Schrebergärten ausgenommen hatte. Als er mit dem Beschuldigten über einen Einnahmetermin gesprochen habe, habe der Mann zunächst darum gebeten, am Morgen zu kommen, denn am Nachmittag sei er schon besoffen. Darauf habe man sich auf einen Termin am nächsten Morgen geeinigt. Zwei Minuten später sei der Delinquent zurückgekommen und habe gesagt: «Sie, im Moment ist Olma – da bin schon am Morgen besoffen.»

... die Kritik, die Staatsanwälte in der Schweiz hätten zu viel Macht.

«Es ist so: Wir haben das ganze Arsenal der staatlichen Gewalt in unseren Händen», so Burger. «Wir können beispielsweise jemanden 48 Stunden einsperren. Für uns ist das Routine, daily Business.» Für den, den es betreffe, sei es aber ein schwerer Eingriff. Aber: «Die Strafprozessordnung sieht Mechanismen vor, die verhindern, dass die Macht missbraucht wird. Wir müssen sehr früh Pflichtverteidiger bestellen. Es gibt Beschwerdemöglichkeiten, die es erlauben, sich zu wehren. Aber es ist so: Auch im internationalen Vergleich hat ein Schweizer Staatsanwalt relativ weitreichende Kompetenzen und Befugnisse.»

... sein Sensorium, zu merken, ob Angeschuldigte die Wahrheit sagen oder lügen.

Zu Beginn der Karriere habe er sicher noch eine gewisse Portion Naivität gehabt, meint Burger. «Man glaubt an das, was einem aufgetischt wird.» So habe er sich einige Male verschätzt und erst im Nachhinein gemerkt, dass er brandschwarz angelogen worden sei. «Man entwickelt ein Gespür dafür, was stimmt und was nicht stimmt.» Oft wisse er auch mehr als die Angeschuldigten ahnen könnten – beispielsweise, wenn im Vorfeld Telefone abgehört worden seien. Er sei schon mit Drogenhändlern konfrontiert gewesen, die unter Tränen beteuerten, sie hätten ihren Lebtag noch nie etwas mit Drogen zu tun gehabt. «Ich weiss genau, dass es ganz anders ist. Da muss ich mir manchmal auf die Zunge beissen, dass ich nicht lache.»

... den Vorwurf der Kuscheljustiz, der vor allem aus der Ecke von Simon Burgers Partei, der SVP, kommt.

Was eine gerechte Strafe sei, liege zunächst im Auge des Betrachters. Bei einem Tötungsdelikt finde der eine, man müsse den Täter bis ans Lebensende wegsperren. Der andere sage, der Tote werde nicht mehr lebendig, es genüge eine kürzere Strafe. «In der Praxis haben wir sicher noch Luft nach oben: Man könnte höhere Strafen ausfällen, vor allem im Bereich der schweren Gewaltdelinquenz.» Strafen hätten auch einen präventiven Aspekt: Sie sollen bessernd auf einen Straftäter einwirken und verhindern, dass er weitere Straftaten begehe. «Da würde ich mir manchmal wünschen, dass man konsequenter durchgreift – vor allem bei Leuten, die immer wieder straffällig werden. Dass man ihnen also nicht eine zweite, dritte, vierte und fünfte Chance gibt. Eine zweite Chance auf jeden Fall, von mir aus auch noch eine dritte. Aber irgendwann muss Schluss sein.» In seinen Bezirken könne er sich allerdings nicht beklagen: «Wir haben zwei Gerichte, die sehr deutliche Sanktionen aussprechen, vor allem das Bezirksgericht Zofingen.»

... die Frage, wie weit es sinnvoll ist, dass Geldstrafen kurze Freiheitsstrafen ersetzen.

Bei Bagatelldelikten – zu schnell fahren oder Alkohol am Steuer – seien Geldstrafen in Ordnung. Bei Gewalttaten seien diese aber nicht angemessen: «Also bei Körperverletzung, Angriffen, Raufhandel.» Hier sei eine Gefängnisstrafe angezeigt.

... die Frage, welche Gesetze man revidieren oder neu schaffen müsste.

Der Ruf nach neuen Gesetzen komme oft sehr schnell auf, sagt Burger. Nötig sei dies aber nicht. «Wir haben ein Strafgesetzbuch, das sehr grosse Strafrahmen vorsieht.» Burger nennt als Beispiel den Drogenhandel: Hier sehe das Gesetz Freiheitsstrafen von bis zu 20 Jahren vor. «Trotzdem dümpelt man im unteren Bereich herum. Wenn man wollte, könne man durchaus höhere Strafrahmen ausfällen.» Möglich wäre auch, Wiederholungstäter «niederschwelliger in Haft zu nehmen». – «Wir haben die gesetzlichen Möglichkeiten. Ich wünsche mir manchmal in der Praxis, dass die Schraube angezogen wird.» Burger betont, dass er damit nicht den Bereich der Bagatelldelikte meint. Schnellfahrer würden beispielsweise im internationalen Vergleich sehr hart angefasst. «Deutsche Kollegen können kaum glauben, welche Strafen wir im Strassenverkehrsbereich ausfällen.»

... seine Reaktionen auf Gerichtsurteile, die seinen Anträgen nicht folgen.

«Ich verstehe mich nicht als Winkelried der Gerechtigkeit», sagt Burger. Zu all seinen Fällen halte er eine gewisse Distanz. Er habe in der Regel kein Problem, wenn ein Gericht eine Strafe anordne, die unter seinem Antrag liege. «Ich ziehe relativ wenig Fälle weiter ans Obergericht. Wenn ich weiterziehe, habe ich oft eine gute Chance, Recht zu bekommen.»

... über spektakuläre Fälle und den Prozess gegen Freddy Nock.

«Ab und zu gibt es Fälle, die höhere Wellen schlagen.» Im Fall Nock sei die gesamte Schweizer Medienlandschaft im Gerichtssaal vertreten gewesen. «Im ersten Moment schluckt man leer. Aber Medienarbeit gehört natürlich auch zu unserem Job.»

... über die Frage, wie es im Fall Nock weitergeht.

«Beide Parteien haben Berufung angemeldet. Der Fall wird ans Obergericht gehen.» Jede Seite sei von ihrer Position überzeugt. Es sei grundsätzlich ein schwieriger Fall. «Es steht Aussage gegen Aussage. Es geht um Indizien. Da ist in beiden Richtungen alles möglich.»

... über sein Amt als Einwohnerrat von Aarau – und die Frage, wie er die Politik von seinem Amt trennt.

«Fast alle Justizfunktionäre – seien es Richter, seien es leitende Staatsanwälte – sind in einer Partei. Wir werden gewählt, vom Volk oder vom Grossen Rat. Da spielt der Parteienproporz eine gewisse Rolle.» Andererseits stelle er fest, dass die Parteizugehörigkeit in der täglichen Arbeit keine grosse Rolle spiele. Thomas Hansjakob beispielsweise, der ehemalige leitende Staatsanwalt des Kantons St. Gallen, sei durchaus einer gewesen, der zwischendurch «den Zweihänder ausgepackt hat». «Er war in der SP, was man gar nicht erwartet hätte.» Umgekehrt kenne er SVP-Richter, die eher auf der «milderen Seite unterwegs sind».

... über das Gerücht, dass sich Kriminalfälle bei Vollmond häufen.

Er selber glaube eigentlich nicht an solche Dinge. Aber: «Ich habe auch schon festgestellt, dass die Leute bei Vollmond aggressiver sind.»