Leben in Aarau
Solidarität

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Solidarität. Noch vor Jahresfrist hörte ich Solidarität nur aus dem Mund von gestandenen Linken am 1.Mai. Wer liberal oder bürgerlich dachte, verzog das Gesicht, wenn sich dieses Unwort ins freiheitliche Ohr verirrte. Solidarität? Das ist für kauzige Gutmenschen oder kämpferische Sozis. Solidarität wurde belächelt.

Was rieb ich mir deshalb vor einigen Wochen die Augen, als ich in einer grossen Sonntagszeitung 111 Covid-Tipps von Persönlichkeiten las. (Fast alles Männer, mit beeindruckenden Salären – Persönlichkeiten eben!) Sie plädierten für: Solidarität! So spricht Klaus Schwab, Gründer des WEF von einem grosszügigen gesellschaftlichen Solidaritätsvertrag, Marc Langenbrinck, CEO Mercedes davon, dass solidarisch handeln schweizerisch ist und Robert Itschner, CEO ABB will der Krise mit Solidarität, Durchhaltewillen und Eigenverantwortung entgegnen.

Ich sollte mich freuen. Ich freue mich nicht. Meine Solidarität, das hat wenig mit dieser Herrenmenschen-«Solidarität» zu tun, heuchlerisch und verlogen. Eine Solidarität unter Mächtigen – die Kameradschaft der Besitzenden. Kurz: Wir erleben eine Antisolidarität. «Eigenverantwortung» ist die Antithese zur Solidarität. Eigenverantwortung meint das Recht des Stärkeren oder in der Jugendsprache einfach «Me, Myself and I». Hauptsache, mir und den Meinen geht’s gut. Hauptsache, ich kann machen, was ich will. Hauptsache mein Leben ist gut, lustig und gemütlich.

Beispiel 1: Ich habe einen politischen Vorstoss im Parlament eingereicht. Das Anliegen: Die Steuern von Unternehmen mit hohen Gewinnen werden die nächsten Jahre erhöht, um jene zu unterstützen, die von Covid-Massnahmen betroffen sind. «Ein Schuss ins Knie!», riefen bürgerliche Männer unisono kopfschüttelnd. In den Kommentarspalten dieser Zeitung wurde ich wieder einmal als Hausfrau an den Herd geschrieben. Bei der Umverteilung scheint das Ende der Fahnenstange der Solidarität, erreicht zu sein.

Beispiel 2: Gehen wir zu handfesteren Beispielen aus der Region. Der Fussballplatz in Rohr. Er stört und nervt, weil lärmig. Er wird vom Einwohnerrat fulminant abgelehnt, nachdem sich fast der gesamte Stadtteil dagegen wehrte. Nicht besonders solidarisch für die FC Aarau Frauen... aber vor allem nicht mit den Anwohnenden in Buchs, die sich gegen 60Meter Türme des Stadions in 18 Meter Distanz zum Haus wehren. Same same ist eben doch very different. Aber bevor Sie sich am Ingwertee verschlucken, weil ich mich einmal mehr völlig parteiisch ins Fussballgeschehen mischen, kommen wir zur Königinnendisziplin der Solidarität.

Beispiel 3a: die Impffrage. Ein sehr wahrscheinlicher Ausweg aus Corona ist eine Impfung – aber impfen funktioniert nur solidarisch. Impfen sich wenige, bringt es nichts. Nur Privilegierte können sich Impfskepsis leisten. Ihre Enthaltsamkeit basiert auf der Erfahrung, dass ihnen geholfen wird, immer und überall. Und dem Wissen, dass die Anderen, die sich das Privileg der Enthaltsamkeit nicht leisten können, geimpft sind.

Beispiel 3b: Und wenn wir beim Impfen sind. Die Pharma weigert sich, für allfällige Impfschäden zu haften. Auch hier lässt sich die liberale Interpretation von Solidarität erkennen: Profite für die Wirtschaft – Kosten für den Staat. Nicht konzernverantwortlich und nicht in meinem Sinne der solidarisch. Gar nicht.

Lelia Hunziker (47), ist Geschäftsführerin und SP-Grossrätin. Sie wohnt in Aarau.