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Vor 76 Jahren fiel der Maienzug letztmals aus, vor 75 Jahren feierten die Aarauer mit General Guisan. Gertrud Nüsperli erinnert sich.
Sie hat ihn gesehen, den General, den hochverehrten. Den Mann in Uniform, dem die Eltern ihre Kleinkinder entgegenstreckten, damit sie ihm ein Schmützli geben konnten, was für eine Aufregung die Aarauer da erfasst hatte! Aber das war schon was, General Guisan höchstpersönlich, der oberste Befehlshaber der Schweizer Armee, als Ehrengast am Friedens-Maienzug 1945.
75 Jahre ist das jetzt her. Aber Gertrud Nüsperli (87) erinnert sich so gestochen scharf, als wäre es gestern gewesen. An das neue weisse Kleid, das ihr die Schneiderin genäht hatte. An die Sandalen, schneeweiss, was für ein Privileg, dazu eine Kette und einen Feldblumenstrauss, so üppig, dass die Arme lahm wurden. Die ganze Gemeindeschulzeit lang hatte sie am Maienzug das gleiche Kleid getragen, verlängert, ausgelassen, angesetzt; Sandalen gab es nur im praktischen und alltagstauglichen Braun, alles war ja rationiert während des Krieges. Doch für den Friedens-Maienzug als Bezirksschülerin sollte alles perfekt sein. Und das war es.
Wenn Gertrud Nüsperli an die Maienzüge ihrer Kindheit zurückdenkt, dann tut sie das in diesen Wochen mit einem anderen Gefühl als sonst. Die Entbehrungen der letzten Wochen, die fehlenden Kontakte, das Daheimbleiben müssen, das hat viel vom Gefühl der Kriegsjahre hochgespült. «Ich habe wieder hartes Brot im Kaffee getunkt; wie damals während des Krieges», sagt sie und lächelt. Und dann blättert sie durch die Marken-Bögen für Lebensmittel, Seife, Schuhe und Mahlzeiten; alle hat sie aufgehoben. Den ganzen Krieg über habe sie sich auf einen gehäuften Teller Reis gefreut, sagt sie. «Und nur eine einzige Tafel Schokolade war erlaubt pro Person und Monat; das war nicht einfach.»
Natürlich hatte die politische Situation Auswirkungen auf den Maienzug. 1940 fiel er aus, 1941 ist Gertrud Nüsperli wegen der Wurst mit hartem Brot in Erinnerung geblieben, wegen dem trockenen Kuchen zum Dessert. Damit Wurst serviert werden konnte, musste der Maienzug ab 1942 auf den Donnerstag vorverlegt werden; denn der Freitag war ein fleischloser Tag. «Beim Imbiss standen überall Eltern oder Verwandte von uns Kindern, die darauf hofften, dass irgendwo Resten anfielen.» Ihr Vater jedenfalls habe immer ihre halbe Wurst bekommen, die Mutter einen Teil ihres Kuchens.
1943 war das Wetter so schlecht, dass der Maienzug auf Samstag verschoben wurde. Aber auch das half nicht, auch am Samstag goss es wie aus Kübeln, und klatschnass quetschten sich die Aarauerinnen und Aarauer in die schwülwarme Stadtkirche, dampften in den Kirchenbänken vor sich hin, zerknittert seien sie nach der Feier aus der Stadtkirche gequollen.
1944 hat Gertrud Nüsperli als schlimmstes Kriegsjahr in Erinnerung. Nie war das Leben so karg, nie war es so still am Mittagstisch, wenn Radio Beromünster um halb Eins die Nachrichten sendete. Und nie hatte sie mehr Angst, nachts, wenn der Fliegeralarm losheulte und die Bomber über die Stadt knatterten. Auch der Maienzug fiel aus. «Uns Kindern wurde gesagt, wenn ganz Europa in Schutt und Asche liege, sei es nicht schicklich zu feiern», sagt Gertrud Nüsperli. Es war das letzte Mal, dass der Maienzug ausfiel. Bis jetzt.
Nach 76 Jahren fällt der Maienzug heuer wieder aus. Zumindest der Maienzug, wie Aarau ihn kennt. Eine traurige Sache, sagt Gertrud Nüsperli. Wenn auch nicht für sie, so viele habe sie schon erlebt. «Aber für die Kinder. Für Aarauer Kinder gibt es keinen schöneren Tag im Jahr.» Bleibt die Gewissheit, dass der Maienzug nach einem Ausfall etwas besonders Schönes, Erleichtertes habe.