Michail Schischkins Kultroman «Briefsteller» wird als eindringliche Bühnenbearbeitung im Theater Tuchlaube gezeigt. Das Thema ist mit dem Krieg in der Ukraine unerwartet aktuell.
«Die Zeit ist aus den Fugen», sagt Shakespeares Hamlet. Für den russischen Autor Michail Schischkin und den ukrainischen Pianisten Alexey Botvinov gibt es keinen aktuelleren Satz. Schischkin thematisiert in seinem Kultroman «Briefsteller» den Krieg; Botvinov ist mit diesem in seiner Heimatstadt Odessa täglich konfrontiert. «Schischkins Roman hat mein Leben fundamental geändert», sagt der Musiker.
Deshalb stand für ihn fest: «Der ‹Briefsteller› gehört auf die Bühne.» Nicht die grosse, theatralische Aktion ist Botvinov ein Anliegen, sondern das durch Musik von Rachmaninow und Skrjabin bereicherte Kammerspiel für zwei Schauspieler und einen Pianisten. Schischkins Roman über zwei Liebende, Wolodja und Sascha, ist dafür wie geschaffen.
Wolodja ist im Boxeraufstand gefallen. Doch Sascha erhält weiter Briefe von ihrem Geliebten – so wie sie umgekehrt auch weiter Briefe an diesen schreibt. Zeit und Raum verschieben sich: Während Wolodja im knapp zwei Monate dauernden Boxeraufstand verbleibt, vergehen bei Sascha Jahrzehnte. Das muss man weder durch Kostüm- noch durch Ortswechsel herausstreichen – die Kraft der Worte genügt.
Konsequenterweise gibt es in Botvinovs szenischer Dramatisierung nur wenige, zunächst von weissen Tüchern bedeckte Versatzstücke. Langsam zieht der Pianist die Umhüllung von Stühlen, Tisch und Klavier weg und erweckt diese damit gleichsam zum Leben. Behutsam nehmen Marisa Rigas (Sascha) und Oliver Goetschel (Wolodja) sodann vom Raum Besitz. Sie kauern auf dem Boden oder stehen an der Rampe, blicken ins Publikum, heften ihre Blicke auf einzelne Zuschauer.
Was sie sagen ist so eindringlich, dass es keinen forcierten Nachdruck braucht. Daran muss man sich in der Tuchlaube erst einmal gewöhnen - an diese leise Wortpoesie, die bei intensivem Zuhören auch ihre Ecken und Kanten offenbart. Steht eine neue Zeitebene an, kommt die elegische, aber nie kitschige Musik zum Zug, die Botvinov wunderbar nuanciert.
Er habe in seinem Buch über einen Krieg der Vergangenheit geschrieben, sagt Michail Schischkin, der seit 1995 in der Schweiz lebt, nach der Vorstellung zum Publikum. «Doch plötzlich ist die Zukunft da - der Krieg in der Ukraine.» Er fühle sich hilflos. Was könne man bloss tun? «Bücher schreiben, Musik spielen - damit können wir dem Krieg etwas entgegensetzen.» Und: «Die Hoffnung Russlands liegt in der Ukraine. Deshalb lässt Putin die Ukraine auch nicht in Ruhe», glaubt der Autor. Alexey Botvinov hat derzeit keine Hoffnung. Deswegen spielt er den «Briefsteller. Elegie - Trio».
«Briefsteller» am Freitag, 14. November um 20.15 Uhr im Theater Tuchlaube Aarau.