Von aussen kannte jeder das «Bavaria» – drin war in den letzten Jahren kaum jemand. Jetzt wird es abgerissen. Ein letzter Blick in eine fast vergessenes Restaurant und seine Vergangenheit.
Da, wo die Uhr hing, ist die Wand heller. Der Teer von den Zigaretten ist jahrzehntelang um das Uhrengehäuse herumgeflossen, gelb wie Bienenwachs. Unter dem hellen Fleck klebt ein Zettel an der Wand: «Polizeistunde 24.00 Uhr». Die Zeit dieses Hauses ist abgelaufen. Seit gestern laufen die Abbrucharbeiten, das Restaurant Bavaria an der Kreuzung Richtung Buchs und Suhr weicht einem Laborgebäude des Kantonsspitals Aarau. Vor dem Abbruch ist Zeit für einen letzten, kurzen Blick in das Haus geblieben, das von aussen alle kannten, nur wenige es aber je von innen gesehen haben.
Das Areal um das einstige Restaurant ist abgesperrt, die Eingangstür zum Gastraum ist vernagelt. Rein kommt man nur über den Hintereingang, wo ein zerfallener Schopf und wilde Reben an die lauschige Gartenwirtschaft und die Beete erinnern, in denen das später frisch in der Gaststube servierte oder für die Wintermonate eingemachte Gemüse wuchs. Jetzt liegen Plastiktopfpflanzen und ein vom Regenwasser aufgedunsener Plüsch-Papagei am Boden, in einem Blumentopf steckt eine Discokugel.
Erinnerung an bayrische Heimat
Das «Bavaria» ist ein nahezu blinder Fleck auf der Karte der Aarauer Restaurants. Weder im dicken Geschichtsbuch noch in den Neujahrsblättern findet sich etwas über das «Bavaria». Stadtarchivar Raoul Richner aber wird fündig: Gebaut wurde das mächtige Haus 1901/02 von der Firma Zschokke. Bauherr war der bayrische Bierbrauer Johann Jakob Gundel, was den Namen «Bavaria», die Patronin Bayerns, erklärt. Gundel betrieb in Buchs an der Mitteldorfstrasse eine Brauerei. Heute steht an ihrer Stelle das Restaurant Mediterran, nur der Name der Bushaltestelle erinnert noch an die Brauerei.
Gundel besass ab 1891 am Zollrain ein Haus. Bereits 1894 hatte er versucht, in Aarau einen Wirtschafts-Neubau zu errichten. Laut Richner lag eine Bewilligung vor, gebaut wurde aber nie. Woran das Projekt scheiterte, ist unklar. Im Neubau an der Buchserstrasse hat Gundel zu Beginn nicht selbst gewirtet, sondern verschiedene Pächter. Darunter das Geschwisterpaar Vogel (um 1904), die Schwestern Sophie Ida Maurer-Richner und Louise Kielholz-Richner (vermutlich 1907 bis 1911).
Nach Elisabeth Wernli (um 1913) und Edmund Nussbaumer (um 1917) scheint Johann Jakob Gundel das Ruder selbst übernommen zu haben, später übernahm sein Sohn Karl Gundel. «Sohn Karl scheint jedoch mehr an Autos interessiert gewesen zu sein, liess er doch bereits 1923 eine Autogarage mit Werkstatt anbauen», so Richner. Karl Gundel werde in den städtischen Unterlagen zudem als «Taxameterbesitzer» bezeichnet; er war also auch Taxi-Chauffeur. Noch 1926 vermietete Gundel die Anlage an die Firma Rebmann, die bis heute dort die Citroën-Garage betreibt.
Für Paul Scheurer war gestern ein trauriger Tag. Er musste mit ansehen, wie der Bagger das Haus seiner Vorfahren Stück für Stück abreisst. 1932 hatten seine Grosseltern Paul Rudolf und Frieda Scheurer-Blum das Haus von der Familie Gundel abgekauft, 1972 übernahmen es Paul und Susanne Scheurer-Rüetschi. 2012 hatte das KSA die Liegenschaft gekauft, Ende April 2013 ging das Restaurant zu, die Scheurers zogen aus. «Mit schwerem Herzen», wie der älteste Sohn, auch er heisst Paul, sagt. Sein Vater sei bei der Schliessung 82 Jahre alt gewesen, der älteste aktive Wirt Aaraus. Bis auf ein Jahr habe sein Vater sein ganzes Leben im «Bavaria» verbracht.
Ohne Wochenende und Ferien
Christian Fritschi, ein ehemaliger Nachbarsbub, erinnert sich noch daran, wie ihn Scheurer als Halbwüchsiger beeindruckte, wenn er mit anderen Jungen auf dem Trottoir vor dem «Bavaria» der WSB auflauerte und auf die Plattform der fahrenden Wagen aufsprang. Gewonnen hatte, wer, wenn das Tram in Richtung Suhr beschleunigte, als Letzter von der Plattform sprang.
An Geschichten wie diese erinnert sich auch Nachkomme Paul Scheurer, doch es schwingt viel Wehmut mit, wenn er über das Restaurant seiner Familie spricht. Er lacht beim Gedanken an die Anglerausflüge mit dem Grossvater an den Hallwilersee, bei denen sie die Fische für die berühmten Eglifilets aus dem Wasser zogen. Er wirkt nachdenklich, wenn er darüber spricht, wie es zunehmend schwerer geworden sei, eine Wirtschaft zu führen. Wie die Grosseltern damals noch sieben Tage die Woche arbeiteten, 16 Stunden pro Tag, und alles frisch zubereiteten. «Selbst gemachte Pommes frites für 40 Mittagsgäste, das macht heute keiner mehr.»
Und Scheurer ist die Traurigkeit darüber anzuhören, dass das nun alles vorbei ist, eine weitere altertümliche Quartierbeiz für immer verschwindet. Einst seien im getäferten Gastraum die Arbeiter der Maschinenfabrik Oehler und die Spitalmitarbeiter über Mittag oder beim Feierabendbier beisammengesessen, am Abend kamen Gesellschaften. Wohl wurde es die letzten Jahre etwas einsamer im Gastraum, doch bis zuletzt hätten seine Eltern auf eine schöne Stammkundschaft zählen können, sagt Paul Scheurer. Leute aus dem Quartier, aus der Stadt, bunt gemischt, vom Banker bis zum Arbeiter, Jung und Alt. «Da geht eine Ära zu Ende.»
Wie in einer anderen Zeit
Seit der Schliessung des Restaurants ist ein Jahr ins Land gegangen. Ein Jahr – und doch wirkt das Innere, als wäre die Zeit vor Jahrzehnten stehen geblieben. Vom FC-Aarau-Poster grinst schief Trainer Ottmar Hitzfeld, die Telefonnummern im Aarauer Restaurantführer an der Wand sind sechsstellig und im Treppenhaus liegt eine Postkarte auf den Stufen, abgestempelt am 15.7.85 in Lugano. Der Zigarettenrauch hat alles sepiafarben getüncht, Wände, Möbel, selbst die Plättli in der Küche.
Es ist nicht nur das Gefühl, in einer anderen Zeit zu sein, das einen hier überkommt. Es ist auch das Gefühl, als wäre die Person – wer auch immer zuletzt hier drin gewesen ist – geflüchtet, Hals über Kopf verschwunden. In der Küche steht ein offenes Tetrapack mit Kaffeerahm, daneben ein Glas Kapern, im Trichter der Kaffeemaschine liegen noch die Bohnen, auf der Theke stehen angebrauchte Schnapsflaschen. Im Gang steht ein Blocher, über dem Griff hängt griffbereit ein Blaumann, daneben steht ein Paar Gummistiefel zum Reinschlüpfen parat. Ein verlassenes, trauriges Bild. Und über allem hängt dieser modrige Geruch, ein Brei aus abgestandenem Rauch, schimmligem Holz und Katzenpisse. Durch die Nase kann man nicht atmen. Die Monate, in denen das Haus leer gestanden hat, haben ihm nicht gutgetan.
Wer das Haus von aussen gesehen hat, konnte vielleicht nicht verstehen, warum es nun abgerissen wird. Wer drin war, schon. «Erst gab es die Idee, das «Bavaria» weiter für das KSA zu nutzen, beispielsweise als Personalrestaurant oder als Personalwohnungen», sagt Sergio Baumann, Leiter Betrieb beim KSA, und schüttelt den Kopf. «Als wir es von innen gesehen haben, haben wir die Idee sofort beerdigt.» Zu schlecht sei der Zustand, zu gross wäre der Aufwand gewesen.
Bis ab 2017 auf dem «Bavaria»-Areal der Neubau für die Institute für Labormedizin, Pathologie und Rechtsmedizin entsteht, dient der Kiesplatz ab Oktober den Spitalmitarbeitenden als Parkplatz.