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Die Villa Oehler bleibt als einziges altes Wohnhaus im neuen Aeschbachquartier in Aarau stehen. Kurt Theodor Oehler hätte einst in die ehemalige Firma Oehler AG, eine Maschinenfabrik, eintreten sollen. Stattdessen wurde er Psychotherapeut. Und schrieb seine Erkenntnisse in einem Buch nieder, in dem er wohl auch eine Antwort auf seine eigenen Kindheitsfragen suchte.
Dieses Haus hat bessere Tage gesehen. Man sagt das so. Dabei waren die Tage früher vielleicht gar nicht viel besser an der Buchserstrasse 27 in Aarau. Hier steht die Villa Oehler, kein sehr grosser Bau, der Verputz rot, die Farbe hat ihre Kraft verloren. Im Garten eine Trauerbuche, dahinter eine Tanne mit Stummel-Ästen, sie sieht aus wie eine Pappel.
Kurt Oehler steht davor und blickt hinauf. Die Giesserei der Firma Aeschbach habe die Tanne so zugerichtet, sagt er. «Jedes Mal, wenn Eisen gegossen wurde, war die Tanne in Schwefeldämpfe eingehüllt und danach ganz braun.» Kurt Oehler ist hier aufgewachsen, zusammen mit einem Bruder, einer Schwester und zwei Halbschwestern. Die eine Schwester wohnt in Suhr, der Bruder ist Physiker und wohnt in Zürich. Die beiden Schwestern aus erster Ehe des Vaters leben nicht mehr. Kurt Oehler lebt in Bern. Er ist pensioniert und hatte dort eine Praxis für Psychotherapie und Psychoanalyse.
Doch Aarau lässt ihn nicht los. Natürlich kommt er, wenn Maienzug ist, er kam dieses Jahr auch, als der «Lokalbericht», das Stück seines besten Freundes Hermann Burger, in Aarau aufgeführt wurde. Er hat den Kampf ums Fussballstadion verfolgt und den Bau des Aeschbachquartiers daneben.
Die Villa Oehler blieb als einziges Haus im neuen Quartier stehen. Zuerst wurde im September 2014 rundum alles niedergerissen, die rote Villa stand auf einmal alleine am Strassenrand. Die Baufirma richtete ihr Büro dort ein. Im Sommer 2015 begannen neue Häuser zu wachsen. Bald soll in der Villa die Kita des Aeschbachquartiers einziehen. Dann spielen die Kinder wie einst Kurt Oehler vielleicht wieder Indianerlis unter der Trauerbuche und schiessen mit dem Fussball an der Hauswand ein Tor. Die Eltern sorgen sich vielleicht wegen des Verkehrs auf der Buchserstrasse.
Dabei war es früher nicht besser. «Die Strasse hatte keinen Asphaltbelag, sondern Kopfsteinpflaster», sagt Kurt Oehler, «ein Riesenlärm.» Und mehrere schwere Verkehrsunfälle habe er als Kind vom Garten aus beobachtet, meist verursacht durch das «weiss-blaue Bähnchen» auf der rechten Strassenseite, die WSB. Das beschreibt Oehler in seinem Buch «Die Äpfel vom Baum der Erkenntnis, vom gläubigen Christen zum überzeugten Atheisten». Es ist seine Lebensgeschichte, er rechnet darin mit seinem fundamental-christlichen Elternhaus ab.
Oehler beschreibt die «Versammlungen», die in ihrem Haus stattfanden, die Räume im Parterre waren an diesen Sonntagnachmittagen jeweils voll mit Leuten besetzt. In der Mitte der Prediger. Schon als 10-Jähriger schlich er davon und machte sich spätestens im Biologieunterricht, wo es um Evolution und Genetik ging, seinen eigenen Reim auf die Schöpfungsgeschichte. Und als er mit vierzehn Jahren das erste Mal in den Armen eines Mädchens lag, wurde ihm bewusst, so schreibt er, dass ihn seine Mutter nie umarmt hatte. «In unserer Familie herrschte eine seltsame Art von emotionaler Zurückhaltung», schreibt er. Erst als seine Mutter gestorben war, entdeckte er in einer Ledertasche, die sie immer bei sich getragen hatte, den Liebesbrief, den er als 12-Jähriger an sie geschrieben hatte.
Es ist wohl kein Zufall, dass Oehlers zweites Buch, welches er dieses Jahr geschrieben hat, den Titel «Das Loch im Ich» trägt. Es sind nicht nur seine Erkenntnisse aus 40 Jahren Arbeit als Psychotherapeut, Oehler hat mit diesem Buch wohl auch eine Antwort auf seine eigenen Kindheitsfragen gesucht. Er wollte für die seelischen Prozesse ein Schema finden, «eine einfache Antwort auf schwierige Fragen», wie er selbst sagt.
Depressive, Kriminelle und Terroristen, sie alle hätten ein «Loch im Ich», ein Defizit aus den Kinderjahren oder sogar ein vorgeburtliches: Genetische Defekte, fehlende Elternliebe, fehlende Kontrolle, Krankheiten, Traumas etc. Würden diese Defizite verstärkt, wachse das «Loch im Ich», und am Ende könne ein Mensch dann andere mit sich in den Tod reissen. So wie der Pilot der Germanwings-Maschine es im März 2015 getan hat. «Wer normal aufgewachsen ist, wird nicht Gotteskrieger oder Terrorist», sagt Oehler. Trotz seiner These sieht Oehler die Vergangenheit und das Verhalten der Eltern nicht als Entschuldigung für die Gegenwart. «Erwachsene Menschen sind für sich selbst verantwortlich», findet er, «auch für ihr unbewusstes Handeln.»
Kurt Oehler jedenfalls hat sich emanzipiert von seinem Elternhaus und wurde am Ende Atheist. Im Weg gestanden sind ihm seine Eltern dabei nie. Und sein Onkel Alfred förderte ihn. Alfred Oehler wohnte in der Villa Blumenhalde, wo heute das Zentrum für Demokratie ist. Er blieb Inhaber der Firma, als Kurt Oehlers Vater und seine Tante schon aus der Firma ausgestiegen waren. Kurt Oehlers Familie war später nicht vermögend. Aber Alfred bezahlte dem jungen Neffen das Giessereiingenieurstudium in Aachen, weil er dachte, er könnte sein Nachfolger werden.
Doch nach dem Abschluss studierte Kurt Oehler nahtlos weiter, zuerst Wirtschaftsingenieurwesen und schliesslich Pädagogik und Psychologie. Der Onkel protestierte nicht. Denn die Firma Oehler, die noch 1972 schweizweit führend in computergesteuerter Lagertechnik war, fusionierte mit der Firma Georg Fischer in Schaffhausen, die schon früher Mehrheitsaktionärin war. Dem Onkel wurde damals angedroht, man werde seine Firma kaputtmachen, wenn er nicht verkaufe. Kurz nach der Fusion verloren 400 Angestellte ihren Job. Die Firma Oehler gab es nicht mehr. «Das Unternehmen wurde bis zur letzten Schraube ausgeschlachtet.» So lief das damals.
So musste Kurt Oehler nicht werden, was er ohnehin nicht werden wollte. Er wollte den Menschen verstehen lernen. 1980 eröffnete er seine Praxis in Bern. Manchmal kommt er jetzt nach Aarau und sieht seinem alten Quartier, das früher ein wüstes Industriegelände war, zu, wie es neu entsteht.
Tut ihm das weh? «Nein, das ist das Leben. Alles verändert sich. Und die Buche im Garten, auf die ich es nie geschafft hatte, hinaufzuklettern, die bleibt ja stehen.» Aber würde er, wenn er wieder nach Aarau käme, in einem der neuen Häuser wohnen wollen? Er lacht. «Es gibt hier wunderbare Wohnungen, aber ich würde in der Altstadt oder am Hungerberg wohnen wollen.» Übrigens, sagt er, habe er sich über den Einsprecher gegen das Stadion sehr geärgert. «Der hat wohl auch ein Loch im Ich.»