Aarau
«Industrial Radio»: Torfeld Nord erwacht dank Theaterverein Szenart zu Leben

Mit «Industrial Radio» hat der Theaterverein Szenart und die Regisseurin Ruth Huber ein besonderes Erlebnis geschaffen. Via Radio werden Geschichten im Torfeld Nord erzählt, das Publikum folgt auf einem Rundgang und hört via Funk-Kopfhörer mit.

Sabine Kuster
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Szenische Tänzer beleben die Spielorte auf dem Industriegelände, die Geschichten werden via Kopfhörer empfangen. kus

Szenische Tänzer beleben die Spielorte auf dem Industriegelände, die Geschichten werden via Kopfhörer empfangen. kus

Wir stehen neben grossen Pfützen in Aaraus chaotischstem Gebiet. Im Regenwasser spiegeln sich der alte Backsteinkamin, ein Schuppen mit Wellblechdach und wir uns selbst. Es ist ein von Architekten und Raumplanern unberührtes Gebiet. Noch. In ein paar Jahren werden im Torfeld Nord zwischen Geleisen und Rohrerstrasse neue Gebäude stehen, neue Aarauerinnen und Aarauer werden einziehen. Die Lage ist ideal. Ein Gestaltungsplan liegt schon vor.

Dass es mitten in Aarau noch immer ein Industrieareal gibt mit einem zufälligen Mix aus Kleingewerbe, grossen Montagehallen, einem Wohnhaus, einem türkischen Treffpunkt, einem Tanzlokal, einem Asylheim und viel Freiraum dazwischen - das überrascht. Der Boden in Aarau ist rar geworden.

Die Autoren

Die Torfeld-Geschichten haben sieben junge Autoren in Zusammenarbeit mit dem Aargauer Literaturhaus Lenzburg und dem Radio Kanal K. Die Autoren sind: János Moser (24), Rombach; Karin Richner (33), Aarau; Hanna Widmer, (33), Wohlen; Jasmine Keller (27), Schafisheim; Dominik Holzer (21), Winterthur; Noëmi Lerch (26), Freienwil bei Baden; Slam-
Poet Simon Chen (41), Zürich.

Eigene Frequenz für 14 Tage

Dennoch wünscht man sich am Ende dieses Abends, dass hier die Bagger noch lange nicht auffahren. Ruth Huber, die zuvor dreimal für die Szenart-Produktion «Geschichten aus der Altstadt» Regie führte, hat im Torfeld Nord neue Geschichten gefunden. Geschrieben haben sie sieben junge Autoren in Zusammenarbeit mit dem Aargauer Literaturhaus Lenzburg und dem Radio Kanal K. Via Radio werden die Geschichten denn auch erzählt: Der Theaterverein Szenart hat für zwei Wochen beim Bundesamt für Kommunikation (Bakom) eine Sendefrequenz gemietet. Dreimal ging «Industrial Radio» letztes Wochenende schon über den Äther, drei weitere Gelegenheiten gibt es Ende dieser Woche.

Industrial Radio ein Audio- Rundgang von Szenart im Aarauer Industrie-Quartier Torfeld Nord
11 Bilder
Industrial Radio ein Audio- Rundgang von Szenart im Aarauer Industrie-Quartier Torfeld Nord
Besuch im Kindergarten des Asylheims. Die Kinder sind fasziniert.
Besuch im Kindergarten des Asylheims. Die Kinder sind fasziniert.
Schwarmintelligenz - einmal von einer szenischen Gruppe dargestellt, einmal vom Publikum.
Tanz-Performance oder die Geschichte zweier junger Graffiti-Künstler.
Industrial Radio ein Audio- Rundgang von Szenart im Aarauer Industrie-Quartier Torfeld Nord
Industrial Radio ein Audio- Rundgang von Szenart im Aarauer Industrie-Quartier Torfeld Nord
Industrial Radio ein Audio- Rundgang von Szenart im Aarauer Industrie-Quartier Torfeld Nord
Industrial Radio ein Audio- Rundgang von Szenart im Aarauer Industrie-Quartier Torfeld Nord
Industrial Radio ein Audio- Rundgang von Szenart im Aarauer Industrie-Quartier Torfeld Nord

Industrial Radio ein Audio- Rundgang von Szenart im Aarauer Industrie-Quartier Torfeld Nord

Sabine Kuster

Jeweils 60 Funk-Kopfhörer werden verteilt und sobald die Frequenz gefunden ist, geht es los. Hinein in einen Schmelztiegel aus Wörtern, echter Industriekulisse, szenischen Tänzern und dem Geruch eines letzten Sommerabends. Dabei ergänzt das Quartier die Geschichten immer wieder zufällig: Die Schüler der Tanzschule hüpfen hinter einem Fenster vorbei, Kinder kurven auf Kickboards um die Zuhörer und die Türken auf ihren Stühlen vor dem Vereinstreff sitzen da wie immer, nur haben sie jetzt ein Publikum mit Kopfhörer.

Es gibt viel zu sehen

Die Geschichten sind spannend und schön gesprochen, aber jene, die draussen erzählt werden, haben es schwer: viel passiert gleichzeitig. Die Tänzer spielen meist ihre eigene Geschichte und es gibt viel zu sehen. Ich schweife ab. Wird in diesem Fabrikturm, an dem sich zwei Tänzer gerade hochhangeln, noch etwas gelagert? Gehört der Schwarm Krähen, der auf einmal gegen den Abendhimmel aufsteigt, zum Rundgang?

Besuch vor dem Asylheim

Doch dann stehen wir vor dem Asylheim und es gibt nur noch eine Geschichte. Es ist, als würden sogar die eigenen Gedanken Teil davon: «Da wohnen sie also», sagt eine Stimme und man weiss nicht, ob man sich selbst zuhört. «Man sieht sie tagsüber manchmal in der Stadt, sie sitzen auf Bänken und reden in ihrer Sprache. Aber eigentlich weiss man nicht, wo sie wohnen.»

Im Hof stehen Kinder, aufgeregt, einige Erwachsene, zurückhaltend. Wir setzen uns, die Kopfhörer noch immer auf. «Ich schaue sie an wie Tiere im Zoo», sagt die Stimme, «nur verschämter. Den Tieren schaut man in die Augen, den Menschen hier eher nicht. Ich traue ihnen nicht, vor irgendetwas habe ich Angst. Dabei bin ich denen doch in allen Belangen überlegen. (...) Wenn ich auf sie zugehen würde, dann doch nur um mir und den anderen zu beweisen, dass ich keine Berührungsängste habe. Habe ich aber. Ich habe ja schon mit meinem Schweizer Nachbar nichts zu tun. Was soll ich mit einem Somalier reden?»

Dann heisst uns der Radiomoderator die Kopfhörer abnehmen. Ich frage zwei Teenager, was sie von unserem Besuch halten. Der eine ist 14, aus Bulgarien, der andere «15, 16 Jahre», wie er sagt, aus Syrien. «Geil», sagt der Bulgare begeistert. Findet er es nicht komisch? «Nein», sagt er, «wir mögen viele Leute.»

Wir setzen die Kopfhörer wieder auf, lernen so auch noch den Kindergarten des Asylheims kennen. Die Kinder wuseln um uns herum, aufgekratzt. Es ist etwas los im Torfeld Nord, die Stadtbevölkerung lernt via Theater die Realität kennen.

Mit dem Hören sehen gelernt

Draussen ist es dunkel geworden. Wir können den letzten Geschichten gut folgen. Eine Liebesgeschichte, eine traurige und jene des Druckers. Sie wird in einer kleinen Druckerei erzählt. Hier, wo Wörter, Kulisse und Geruch übereinstimmen, ist «Industrial Radio« besonders intensiv.

Szenart und die junge Regisseurin Ruth Huber haben mit «Industrial Radio» Theater einmal mehr eng mit der Realität verwoben und so im Torfeld Nord ein besonders berührendes und atmosphärisches Erlebnis geschaffen. «Industrial Radio» lehrt den Zuhörern das Sehen.

«Industrial Radio» am 12., 13. und 14. September jeweils um 19 Uhr im Torfeld Nord. Tickets 25 Franken, Reservation unter www.szenart.ch. Standort und Abendkasse an der Rohrerstrasse 20. Dauer ca. 2 Stunden.