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Ein 40-jähriger Schweizer mit einer psychischen Störung ärgerte sich wiederholt über Velofahrer. An zwei Tagen schlug er als Pneustecher zu. Das Bezirksgericht Aarau hält ihn für schuldunfähig und verfügt eine Therapie.
Sebastian (Name geändert), ein 40-jähriger Schweizer, hatte sich wegen mehrfacher Sachbeschädigung vor dem Bezirksgericht Aarau zu verantworten. Wobei das «Verantworten» zu relativieren ist: Auch Staatsanwalt Hans Frey war der Meinung, der Beschuldigte könne nicht bestraft werden, denn er habe die Taten in einem geistigen Zustand begangen, der ihm die Einsicht in die Schuldhaftigkeit seines Handelns verunmöglicht habe. Der Staatsanwalt stützte sich dabei auf ein psychiatrisches Gutachten, das dem soweit geständigen Täter eine anhaltende wahnhafte psychische Störung psychotischen Ausmasses attestierte.
Der vor Gericht in sich gekehrt wirkende, äusserlich völlig unauffällige Mann, ein stellenloser Akademiker, hatte Ende Februar 2018 innert zweier Tage in Aarau mit einem Militärsackmesser 14 Veloreifen durchstochen. Sechsmal hatte er an der Metzgergasse zugestochen, fünfmal an der Igelweid und je einmal in der Pelzgasse, am Rain und an der Bahnhofstrasse. Unter den Geschädigten, die Straf- und Zivilklage einreichten, waren auch namhafte Politiker der Aarauer Grünen. Einer von ihnen zum Beispiel bezifferte die Kosten für die Reparatur seines aufgeschlitzten Vorderrad-Reifens auf Fr. 74.30. Damit lag er im mittleren Bereich: Die Zivilforderungen bewegten sich zwischen 35 und 128 Franken.
Was hatte den Pneustecher zu seinem Tun bewegt? Bernadette Roos Steiger, die psychiatrische Gutachterin, erklärte vor dem Gesamtgericht, Sebastian habe sich bedroht gefühlt. Er sei überzeugt gewesen, dass die Velofahrer ein Komplott gegen ihn persönlich geschmiedet hätten. Er wisse schon, dass es Gesetze gebe, aber wegen seines beeinträchtigten Realitätsbezugs habe er nach einer eigenen Logik gehandelt. Gegenüber dem Gericht unter dem Vorsitz von Gerichtspräsident Andreas Schöb brachte Sebastian selber zum Ausdruck, dass er sich wiederholt über das Fehlverhalten von Velofahrern geärgert hatte. Über Velos, die auf dem Trottoir verkehrten, und solche, die abgestellt waren, wo sie nicht hingehörten, zum Beispiel vor Schaufenstern.
Wenn Velofahrer «die Sau abliessen», liess er durchblicken, könne dies unter Umständen die Gesundheit – von Fussgängern – schädigen. Sebastian wandte sich deswegen anscheinend mehrmals an die Polizei, erhielt dort aber, wie er vor Gericht aussagte, keine Unterstützung für sein Anliegen – die Disziplinierung verkehrsregelresistenter Velofahrer. So griff er gewissermassen zur Selbstjustiz. Dass er der Polizei schon in diesem Zusammenhang bekannt war, wurde ihm dann, wie sein amtlicher Verteidiger durchblicken liess, zum Verhängnis: Schnell fiel offenbar der Verdacht auf ihn. Es sei ihm jetzt klar, dass nicht er, sondern die Polizei für das Fehlverhalten von Radfahrern zuständig sei, sagte Sebastian. Dass er sich raushalten müsse. Künftig werde er sich deshalb anders verhalten: «Wenn jemand auf dem Trottoir fährt und ich kenne die Person namentlich, werde ich Strafanzeige einreichen.»
Bei der Hauptverhandlung am Bezirksgericht ging es primär um den Antrag der Staatsanwaltschaft, für den Beschuldigten eine ambulante Behandlung anzuordnen. Die Gutachterin befürwortete eine solche. Ihr schwebte eine Gesprächstherapie in Kombination mit einer medikamentösen Behandlung vor. Dagegen setzten sich Sebastian und André Kuhn, sein amtlicher Verteidiger, zur Wehr. Der Verteidiger machte geltend, zum Tatzeitpunkt habe sein Mandant an einer wahnhaften Störung gelitten. Diese sei aber überwunden. Eine Massnahme sei daher unnötig. Und selbst, wenn man eine Rückfallgefahr nicht ausschliesse, gelte die Regel, dass je geringfügiger die allfälligen Straftaten sein, desto eher auf eine Massnahme verzichtet werden müsse. Sebastian habe bloss geringfügige Sachbeschädigungen begangen, die nur auf Antrag strafbar und mit Busse zu ahnden seien. Eine tiefere Deliktskategorie gebe es im Strafrecht gar nicht.
Staatsanwalt Frey widersprach allerdings: Es handle sich nicht nur um einen geringfügigen Sachschaden. Sebastian habe die Idee gehabt, innert kurzer Zeit mehrere Reifen zu durchstechen. «Er wollte einen Schaden anrichten, der 300 Franken überstieg.»
Dieser Meinung war auch das Gericht, das zudem der Gutachterin folgte, nach deren Einschätzung die Störung, die sie Sebastian im Gutachten attestierte, noch immer vorhanden ist. Das Gericht schloss sich deshalb der Staatsanwaltschaft an und verfügte eine ambulante Massnahme, wobei eine Gesprächstherapie im Vordergrund stehen soll. Mit Blick auf die Verhältnismässigkeit erinnerte der Gerichtspräsident in der mündlichen Urteilsbegründung daran, dass die Gutachterin von einer hohen Rückfallgefahr gesprochen habe. Und in diesem Fall könnte sich die Aggression nicht nur gegen Sachen, sondern auf niedriger Schwelle auch gegen Personen richten. Sebastian war in den letzten fünf Jahren mehrmals in Königsfelden. Er ist auch vorbestraft, weil er seiner Schwester eine Ohrfeige gegeben hat und wegen Drohung – gegen einen Nachbarn (wegen einer «Störungsquelle») sowie gegen Beamte (als er sich einschloss, weil ihn die Polizei abführen wollte). Der bedingt ausgesprochene Vollzug einer Geldstrafe in diesem Zusammenhang wird nicht widerrufen.
Für die Verfahrenskosten (5250 Franken) und die Entschädigung des amtlichen Verteidigers hat der Staat aufzukommen. Das sichergestellte Armeetaschenmesser soll eingezogen und vernichtet werden. Die Zivilforderung der 14 Geschädigten verwies das Gericht auf den Zivilweg. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.