«Ich mache mir Sorgen, dass wir einfach vergessen werden»

Massnahmen wie Social Distancing sind in Asylunterkünften kaum umsetzbar. Zwei Geflüchtete erzählen.

Noemi Lea Landolt
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In der Unterkunft in Unterentfelden wohnen 70 Personen. «Es ist nicht möglich, Abstand zu halten», sagt Rahim Mohammadzadeh. Rfaat Abdul Daiem (71) hat ein Einzelzimmer, lebt aber mit Familien in einer Unterkunft.
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In der Unterkunft in Unterentfelden wohnen 70 Personen. «Es ist nicht möglich, Abstand zu halten», sagt Rahim Mohammadzadeh. Rfaat Abdul Daiem (71) hat ein Einzelzimmer, lebt aber mit Familien in einer Unterkunft.

In der Unterkunft in Unterentfelden wohnen 70 Personen. «Es ist nicht möglich, Abstand zu halten», sagt Rahim Mohammadzadeh. Rfaat Abdul Daiem (71) hat ein Einzelzimmer, lebt aber mit Familien in einer Unterkunft.

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Menschenansammlungen von mehr als fünf Personen sind verboten. Auf allen Kanälen wird die Bevölkerung dazu aufgerufen, Abstand zu halten, die Hände zu waschen und möglichst zu Hause zu bleiben. Die Massnahmen gelten auch für die Männer, Frauen und Kinder, die in Asylunterkünften im Aargau leben.

Einer von ihnen ist Rfaat Abdul Daiem. Er ist 71 Jahre alt und gehört damit zur Corona-Risikogruppe. Seit 2015 lebt der Syrer als vorläufig Aufgenommener in der Schweiz. Seit kurzem wohnt er in einer Unterkunft in Suhr. Er habe alleine ein Zimmer, sagt er am Telefon. Zum ersten Mal. In den Jahren zuvor musste er das Zimmer mit jungen Männern teilen. Im Einzelzimmer sei es besser. Trotzdem macht er sich wegen des Coronavirus Sorgen. «Auf meinem Stock hat es 13 Zimmer. Es leben hier Familien mit Kindern und Einzelpersonen aus verschiedenen Ländern. Wir teilen das WC, das Badezimmer und die Küche.»

Der Betreuer habe ihn über das Coronavirus informiert. «Es hängen auch überall Zettel und es wurde uns gesagt, wir sollen oft die Hände waschen und nicht mehr weggehen.» Rfaat Abdul Daiem hält sich an die Empfehlungen. Er gehe kaum noch raus, nur noch, um einzukaufen. Die Situation und die Angst, krank zu werden, bedrückten ihn, sagt er.

Online lernen ist ohne Wlan nicht möglich

Rahim Mohammadzadeh geht es gleich. «Das Coronavirus hat unser Leben noch schwieriger gemacht», sagt der 37-jährige Iraner am Telefon. Er wohnt seit drei Jahren in der kantonalen Asylunterkunft in Unterentfelden. Er wartet noch auf den Asylentscheid. Seit der Bund die Notlage ausgerufen hat, verbringt er die Tage in der Unterkunft. Es habe in der Nähe einen kleinen Denner zum Einkaufen. «Aber wegen der Hamsterkäufe hat es im Moment kein Brot und keine Eier.» Ausweichen könne er nicht. Die neun Franken, die er pro Tag bekommt, reichen fürs Nötigste. Ein Zugbillet, um in einem Discounter in einer grösseren Stadt einzukaufen, kann er sich nicht leisten.

Obwohl Rahim Mohammadzadeh als Asylsuchender mit Status N relativ wenig Möglichkeiten hat, sitzt er normalerweise nicht in der Unterkunft. Nach drei Jahren in der Schweiz spricht er fast fliessend Deutsch. Er hat verschiedene Kurse von Freiwilligenorganisationen besucht, an Beschäftigungsprogrammen teilgenommen und die Ausbildung zur Migrationsfachperson in Biel angefangen. «Aber im Moment ist das alles gestoppt.» Es sei schwierig. Er finde in der Unterkunft keine Ruhe und habe auch keinen Rhythmus mehr. Online-Lernprogramme könne er auch nicht absolvieren, weil es in der Unterkunft kein Wlan habe.

22 Zimmer und eine grosse Küche für 70 Personen

In der Unterkunft wohnen auf zwei Stockwerken 70 Personen in 22 Zimmern. Auf jedem Stock gibt es eine kleine Küche, um Kaffee oder Tee zu kochen. Die grosse Küche befindet sich im Erdgeschoss. Sie wird von allen 70 Personen benutzt. Das Wohnzimmer mit dem Fernseher und den Esstischen ebenfalls. Alle Zimmer seien voll und es sei eng, sagt Rahim Mohammadzadeh. «In meinem Zimmer hat es zwei Kajütenbetten. Es gibt aber auch 6er- und 7er-Zimmer. Es ist nicht möglich, Abstand zu halten.»

Pia Maria Brugger, Leiterin der Unterabteilung Asyl beim Kantonalen Sozialdienst, räumt ein, dass die Einhaltung des Social Distancing nicht in allen Unterkünften gleich gut möglich sei. Durch vereinzelte Umplatzierungen, vor allem von Personen, die einer Risikogruppe angehörten, könne «die Verträglichkeit erhöht werden». Allen Personen, die einer Risikogruppe angehörten, werde speziell Sorge getragen. «Sie wurden schon vor dem Coronavirus in unserer Unterkunft für vulnerable Personen untergebracht und werden durch eine medizinische Fachperson betreut.»

Rahim Mohammadzadeh sagt, er spüre keine Hilfsbereitschaft. «Ich mache mir Sorgen, dass wir einfach vergessen werden.» Er wünscht sich, dass der Kanton jetzt schnell reagiert, bevor es zu spät ist. Das deckt sich mit der Forderung des Club Asyl Aargau, einem Projekt des Vereins Netzwerk Asyl. Rahim Mohammadzadeh ist Mitglied im Club, der Geflüchteten eine Stimme gibt. In einer Mitteilung appelliert der Club an die Behörden, die Kompetenzen und Ressourcen, über die sie in der aktuellen Krise verfügten, auch im Asylbereich anzuwenden.

Pia Maria Brugger sagt, die Bewohnerinnen und Bewohner würden laufend und gezielt auf die Einhaltung der Verhaltensregeln aufmerksam gemacht. Mitarbeitende seien wegen des Coronavirus nicht weniger vor Ort. Einzig jene, die der Risikogruppe angehörten, würden derzeit keine Frontarbeit leisten. Die Präsenz sei wichtig, «um die Bewohnerinnen und Bewohner umfassend über die aktuelle Situation und die Massnahmen zu informieren, Ängste Abzubauen und besonnen einzuwirken».

Rahim Mohammadzadeh und der Club Asyl kritisieren, die Information zum Virus und den Massnahmen seien «völlig ungenügend». Sie erfolgten oft nur über verteilte Papiere, anstatt durch einen erhöhten Einsatz der Asylbetreuer. In Unterentfelden habe eine Betreuerin einmal mündlich informiert und es seien Infoblätter aufgehängt worden, sagt Rahim Mohammadzadeh. Er selber werde von Freundinnen und Freunden über Whatsapp auf dem Laufenden gehalten. «Weil ich Deutsch kann, verstehe ich die Informationen. Aber nicht alle können so gut Deutsch wie ich.»

Bisher kein Corona-Fall in einer Asylunterkunft

Seit letzter Woche gibt es in der Unterkunft auch ein Besuchsverbot, zum Schutz der Mitarbeitenden und der Geflüchteten. Mitarbeitende seien aber kaum vor Ort, sagt Rahim Mohammadzadeh. Das Büro sei unter der Woche zwei Stunden besetzt, am Wochenende gar nicht. «Es gibt keine Hotline, wo wir anrufen könnten. Wenn am Wochenende jemand krank wird, müssen wir warten, bis am Montag das Büro besetzt ist.» Die Angst vor einer Ansteckung mit dem Virus sei da. «Wenn jemand niest oder Fieber hat, denke ich gleich an Corona.»

Bis jetzt wurde in den kantonalen Asylunterkünften noch keine Person positiv auf das Coronavirus getestet. Es habe aber vereinzelte Verdachtsfälle gegeben, sagt Brugger. Wie die betroffene Person im Falle einer Ansteckung isoliert würde, sei abhängig von der Struktur der Unterkunft. «Jeder bestätigte Fall würde räumlich getrennt untergebracht und in eine Quarantänesituation gesetzt werden», sagt sie. Bei Bedarf werde der Sozialdienst ausserdem Rücksprache mit medizinischen Fachpersonen nehmen.