Bezirksgericht Aarau
Fünf Jahre Landesverweis: Die Masche «Papierlitürgg» zog nicht beim Bezirksgericht

Ein 53-jähriger Türke, der zu Unrecht Arbeitslosengeld kassierte, soll die Schweiz für fünf Jahre verlassen.

Ueli Wild
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Bezirksgericht Aarau (Archivbild)

Bezirksgericht Aarau (Archivbild)

Aargauer Zeitung

Emir (Name geändert) ist 53 und spricht breitestes «Züridüütsch», Marke «Chräis Chäib». Emir hat aber einen türkischen Pass und wohnt in der Region Aarau. Zürich hat er vor über 20 Jahren, zusammen mit seiner neuen Partnerin – nach einer gescheiterten Ehe und einem Privatkonkurs – den Rücken gekehrt. Wie er sagt, um ein neues Leben zu beginnen und um Drogengeschichten und andere Gefahrenherde im Sündenpfuhl an Sihl und Limmat hinter sich zu lassen. Ein Leben im Aargau also als Delinquenz-Prophylaxe.

Erfolgreich war die Übungsanlage nur bedingt. Diese Woche stand Emir in Aarau vor Gericht. Grund: Er hat 2016 innert neun Monaten rund 29'000 Franken an Arbeitslosengeldern kassiert, gleichzeitig aber auch noch 40'000 Franken als Arbeitnehmer verdient. Der Sachverhalt war unbestritten. Emir erklärte, er habe das Formular neunmal ausgefüllt und ebenso oft das entsprechende Kreuzchen gemacht, nur habe er nicht gewusst, dass er etwas falsch machte. Solche Papiere seien «ein Horror» für ihn. Darum habe er seit 1994 auch nie mehr eine Steuererklärung ausgefüllt. Er zeigte sich denn auch irritiert, als Gerichtspräsident Andreas Schöb Fälle von Steuerhinterziehung in den Jahren 2008–2013 und 2016 zur Sprache brachte, als er die diversen Kontakte beleuchtete, die Emir in den letzten Jahren zu Polizei und Strafverfolgungsbehörden hatte.

Emir versuchte, den Eindruck zu erwecken, damals in Zürich, Mitte der Neunzigerjahre, als in seiner Wohnung Drogen gefunden wurden, sei er «ein böser Bub» gewesen. Aber seither sei er ein braver Familienmensch, der höchstens zu schnell Auto fahre und der sich als Ersatz-Opa um den Enkel seiner einst im Rotlichtmilieu tätig gewesenen, aber längst zur Hausfrau mutierten Partnerin kümmere. Der Gerichtspräsident hatte einen etwas anderen Eindruck: «Mir scheint, es wird nicht weniger – es wird eher mehr.» 29'000 Franken seien «nicht nichts».

Die Verteidigungsstrategie war leicht erkennbar: Was den in der Schweiz geborenen und stets hier wohnhaft gebliebenen 53-Jährigen bis zum Heulkrampf umtrieb, war die drohende Landesverweisung für fünf Jahre. Er selber und seine als Zeugin geladene Partnerin betonten, er spreche nicht akzentfrei Türkisch. Mit der Schwester und der über eine Eigentumswohnung verfügenden Mutter in der Türkei habe er nur ganz losen Kontakt. Emir sei ein «Papierlitürgg», sagte sein Verteidiger. «Seine einzige Heimat ist die Schweiz.» Für eine erfolgreiche Eingliederung in der Türkei fehlten die Voraussetzungen, und Emirs Abschiebung könnte als Verstoss gegen das Menschenrecht auf ein Familienleben verstanden werden.

In Bezug auf die Frage der Landesverweisung spielte es keine Rolle, dass Emirs Verteidiger, anders als die Staatsanwaltschaft, nicht mehrfachen Betrug, sondern «nur» mehrfachen Sozialversicherungsbetrug gelten lassen wollte. Beides sind Katalogdelikte, die nach dem Willen des Gesetzgebers zu einer Landesverweisung führen müssen – ausser, es handelt sich um einen Härtefall. Einen solchen hielt der Verteidiger für gegeben. Der Einzelrichter kam freilich zu einem andern Schluss. Die Härtefallklausel, räumte Andreas Schöb ein, sei immer zu prüfen, wenn der Beschuldigte in der Schweiz geboren sei. In Emirs Fall sei diese Voraussetzung gegeben. Von der Landesverweisung sei dann abzusehen, wenn das private Interesse an einem Verbleib in der Schweiz das öffentliche Interesse an einer Wegweisung übersteige. Der Härtefall solle aber die Ausnahme bleiben, und angesichts des regelmässigen Delinquierens, sagte der Richter zu Emir, «sind Sie nicht die Ausnahme, die der Gesetzgeber meint».

Der Gerichtspräsident verurteilte Emir im Sinne der Anklage wegen mehrfachen Betrugs zu 5 Jahren Landesverweisung. Bei der bedingten Geldstrafe (120 Tagessätze à 120 Franken, 2 Jahre Probezeit) und der Verbindungsbusse (3600 Franken) blieb das Urteil unter den Vorstellungen der Anklage, aber über jenen der Verteidigung. Andreas Schöb ging freilich nicht davon aus, dass sein Urteil rechtskräftig wird. Vielmehr sei zu vermuten, dass sich weitere Instanzen mit dem Fall herumschlagen müssten.