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Sollte es einfacher werden, zum jüdischen Glauben zu konvertieren? Wie soll mit dem Thema Mischehen umgegangen werden? Und was erwarten die Jugendlichen von ihrer Glaubensgemeinde? Das sind Fragen, die am ersten jüdischen Jugendparlament im Grossratsgebäude Aarau diskutiert wurden. Einer der Teilnehmer: Der 30-jährige Aarauer Michel Holz, Präsident der Swiss Union of Jewish Students. Seine Erwartungen an den Anlass: «Ich möchte wissen, was unsere Generation denkt. Wir wollen Positionspapiere erarbeiten und konkrete Massnahmen fordern, mit denen wir auf die Gemeinden zugehen können.»
Um es vorwegzunehmen: Was die junge Generation der Juden denkt, ist nicht so leicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Es wurde kontrovers diskutiert, auf Deutsch, Französisch und Englisch, Männer und Frauen aus der ganzen Schweiz, die der Religion einen höheren oder tieferen Stellenwert in ihrem Leben einräumen. Manche tragen eine Kippa, die traditionelle jüdische Kopfbedeckung, aber den meisten sieht man nicht an, dass sie in Aarau sind, um über eine religiöse Gemeinschaft zu diskutieren.
Holz sagt von sich selbst, dass der Glaube in seinem Alltag keine dominante Rolle einnimmt. «Er wirkt sich darauf aus, was ich esse. Und am Samstag, am Schabbat, arbeite ich nicht, nehme es etwas gemütlicher.» Zudem würden natürlich die jüdischen Festtage gefeiert, aber ansonsten lebe er wie jeder andere Schweizer auch. Auch Ablehnung erfahre er selten. «Wenn man mit jemandem ein Bier trinken geht, sagt man ja auch nicht: ‹Hallo, ich bin der Jude, und wer bist du?›», erklärt er schmunzelnd.
Natürlich gibt es sie, die negativen Erlebnisse. Etwa eine gehässige Bemerkung vom Gegner, wenn der jüdische Fussballclub auf dem Platz steht. Oder Hänseleien in der Schule. «Aber haben wir nicht alle schon Spott erfahren? Da kann ich drüberstehen», findet Holz. Das sei kein Vergleich zu dem, was er von Freunden in Frankreich oder Deutschland höre, wo die Angst vor physischer Gewalt und Anschlägen viel grösser sei. «Ich hoffe, das bleibt so in der Schweiz. Sie ist im Vergleich zu anderen Ländern in Europa eine Insel der Toleranz.»
Trotzdem bleibt Antisemitismus unter den Jugendlichen ein Thema. Das Jugendparlament hat nicht nur Forderungen an die Glaubensgemeinde, sondern auch an die politische Schweiz. «Jüdische Einrichtungen müssen nach wie vor geschützt werden, und das kostet die Gemeinden viel Geld. Wir möchten, dass der Staat in diesem Bereich seine Verantwortung wahrnimmt», sagt Holz. Eine weitere Forderung entstand im Zusammenhang mit den Ereignissen in Genf. Dort dürfen Staatsangestellte keine sichtbaren religiösen Symbole mehr tragen. «Ich verstehe, dass ein Richter oder ein Lehrer das nicht darf», erklärt Holz. Irgendwann werde vielleicht diskutiert, dass auch Schülerinnen und Schüler keine Kreuze, Kippa oder Kopftücher mehr tragen dürfen. «Das hindert die Menschen, ihre Religion auszuleben, und das sollte in der Schweiz möglich bleiben», erklärt Holz.
Viel kontroverser als die politischen Forderungen werden beim ersten jüdischen Jugendparlament aber die Wünsche an die jüdischen Gemeinden diskutiert. Etwa zum Thema Mischehen: Die zuständige Kommission fordert eine religiös eingeschränkte Mitgliedschaft für nichtjüdische Partner von Gemeindemitgliedern. «Nicht-jüdische Partner fühlen sich oft ausgegrenzt», begründet die Sprecherin. Durch einen neuen Status könnten sich die Partner in Mischehen eher in die Gemeinschaft integrieren, auch wenn sie nicht in die Gemeinde aufgenommen werden können.
Die zweite Forderung: Einen vereinfachten Giur (übertritt zum jüdischen Glauben) für Kinder mit jüdischem Vater, aber nichtjüdischer Mutter, wenn das Kind eine entsprechende Erziehung genossen hat. Dagegen regt sich Widerstand: «Bevor wir einfach alle aufnehmen, müssen wir uns fragen, was unsere Gemeinschaft ausmacht. Was bedeutet es, jüdisch zu sein?», fragt ein Teilnehmer. Dass das Kind die Religion von der Mutter übernehme, habe den Grund, dass man mit Sicherheit sagen könne, dass es ihr Kind sei, erklärt ein weiterer Teilnehmer und findet, der Status quo solle bleiben. «Heutzutage ist mit einem Gentest zweifelsfrei nachweisbar, wer der Vater ist», argumentiert dagegen ein anderer. In der Abstimmung werden beide Forderungen, wie sie die Kommission formuliert hat, mit klarem Mehr angenommen. Die zwei Wünsche werden jetzt an die Gemeinde herangetragen – ob sich dadurch tatsächlich etwas verändert, ist völlig offen.
Jehoshua Ahrens, Rabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Baden, formuliert es so: «Die Entscheidungsträger sind meistens schon etwas älter, aber die Zukunft ist jung.» Die Religion sei über die Generationen hinweg dieselbe, aber ihr Ausdruck ein anderer. Deshalb freue er sich über die lebendige Diskussion, und die Ideen, die die Jugendlichen einbringen würden. Die jüdischen Gemeinden haben dabei das gleiche Problem wie die Kirchgemeinden: Mitgliederschwund. Umso wichtiger scheint es, dass die Anliegen der Jugendlichen berücksichtigt werden: «Eine Mitgliedschaft ist relativ teuer. Da stellt man sich natürlich die Frage, was man im Gegenzug bekommt», sagt Holz.
Das jüdische Jugendparlament hat den ganzen Sonntag debattiert, in Workshops Positionspapiere erarbeitet und mit dieser und jener Formulierung gerungen. Unterstützt wurden die Jugendlichen dabei von Nationalrat Cédric Wermuth (SP) und Nationalrätin Irène Kälin (Grüne) sowie dem Zürcher Gemeinderat Ronny Siev (GLP).
Michel Holz wirkt nach den langen Debatten etwas erschöpft, aber glücklich. «Ich hätte nicht gedacht, dass so kontrovers diskutiert wird. Es ist uns gelungen, die Leute aus der Reserve zu locken», freut er sich. Dass es innerhalb des Judentums eine grosse Meinungsvielfalt gebe, werde wohl immer so bleiben. «Vier Juden, fünf Meinungen», bemerkt er trocken. Trotzdem gibt es eine gemeinsame Richtung: «Es gibt eine leichte Tendenz Richtung Öffnung», stellt Holz fest. Ob der Anlass in dieser oder ähnlicher Form ein zweites Mal stattfinden wird, hängt jetzt nicht zuletzt davon ab, ob die Wünsche der Jugendlichen bei den Entscheidungsträgern Gehör finden.