Aarau
Erich schmeisst das Handtuch: Die «Waage» macht bald dicht

Nach 30 Jahren im Gastgewerbe hat Erich Frensdorff genug: Diesen Sommer schliesst er seine Beiz. Der Wirt der «Waage» berichtet über die Gründe für die Schliessung und seine Zukunftspläne.

Katja Schlegel
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Erich ist mit allen per Du und schüttelt jedem Gast die Hand.

Erich ist mit allen per Du und schüttelt jedem Gast die Hand.

Sandra Ardizzone

Aarau verliert eine seiner letzten Chnellen: Die «Waage» in der Metzgergasse geht nach dem Maienzugvorabend zu, im Juli wird mit den Stammkunden ausgetrunken und das Haus geräumt. Seitdem diese Nachricht die Runde macht, brodelt auch die Gerüchteküche. Es heisst, die Hausbesitzer hätten Wirt Erich Frensdorff rausgeschmissen, weil sie das Haus sanieren und die Beiz teuer verpachten wollten. Doch Erich schüttelt den Kopf und sagt klipp und klar: «Das Ende der ‹Waage› hat nur mit meiner Liebsten und mir zu tun, mit nichts und niemandem sonst.» Er habe den Vertrag gekündigt, weil er nach rund 30 Jahren im Gastgewerbe, davon 13 Jahre in der «Waage», genug habe. Und weil er mit 60 Jahren das Gefühl habe, wieder etwas mehr von der Welt sehen zu müssen als Tag für Tag nur seine Beiz.

Wie ein Marionettenspieler

Erich Frensdorff ist ein eigenwilliger Kerl. Einer, der nicht aufs Maul hockt, ein Herzensguter mit Prinzipien. Jeder Gast wird per Handschlag begrüsst, jeder geduzt. Die «Waage» ist ein Biotop, ein Sammelbecken für Gäste jeden Alters, jeder politischen Gesinnung, jeder Hautfarbe. Ein Ort für Gäste, die kein anderer Wirt bei sich am Tisch sitzen haben will. Erich nennt sie liebevoll «Individualisten» oder «Stadtoriginale». Das verlangt viel Toleranz, aber auch eine strenge Hand. Erich zieht hinter dem Tresen die Fäden. Er setzt Einsame zusammen und achtet darauf, dass Streithähne in verschiedenen Ecken hocken, passt auf, dass kein liebestoller Kerl einer Frau auf die Pelle rückt, die das nicht mag. «Wie ein Marionettenspieler», sagt er und lacht. «Das Nebeneinander geht nur, wenn ich mich als Person einbringe.» Dass das manchmal eine heikle Gratwanderung ist, gibt Erich unumwunden zu. Aber die 30 Jahre im Gastgewerbe haben ihn Gelassenheit gelehrt.

«Ich lasse viel zu. Wer laut ist, der darf laut sein.» Er lebe mit der «Waage» die Kultur des Wohnzimmers. «In einem Wohnzimmer kracht es, da schreit man sich an und tanzt auf den Tischen.» Aber auch Erich hat seine Grenzen. Wer auf einem Drogentrip ist, hat in seiner Beiz nichts zu suchen, genauso wenig wie einer, der eine Schlägerei anzettelt oder sich zu rassendiskriminierenden Äusserungen hinreissen lässt. «Ich bin weder Polizist noch Richter, ich bin Wirt. Aber wenn sich jemand danebenbenimmt, fliegt er raus.»

Der Weltenbummler

Erich hat in seinem Leben viel gesehen. Geboren in Aarau, als Sohn eines Letten und einer Deutschen, machte er sich nach seiner KV-Lehre auf in die weite Welt. Er startete in den USA und wollte bis zum südlichsten Zipfel Amerikas, bis nach Feuerland. Aber da kam er nie an. Zu gut gefiel es ihm unterwegs, am besten in Mexiko. Immer wieder kehrte er danach nach Mittelamerika zurück, erst jedes Jahr, später all zwei Jahre. «Reisen entspannt», sagt Erich. «Und beim Reisen lernt man, was Leben heisst.» Er habe ein gutes Leben in der Schweiz. «Aber mir fehlt der Sprutz. Ich will das Leben spüren, kein Geld im Sack haben und nicht wissen, wo ich die nächste Nacht verbringe.» Und natürlich die Sonne sehen.

Zurück in der Schweiz arbeitete er unter anderem in einer Metzgerei, als Lehrer, Handlanger auf dem Bau und bei einem Sanitär. In den Achtzigerjahren stieg Erich ins Gastgewerbe ein. Erst mit illegalen Partys, dann an der Brötlibar im legendären «Affenkasten» an der Hinteren Vorstadt. Mit der Musikbar «Caramba» an der Metzgergasse eröffnete er sein erstes eigenes Lokal, 2003 übernahm er gemeinsam mit seiner Partnerin Elisabeth Boss die «Waage», und 2009 eröffneten die beiden das Restaurant Rombacherhof, das sie inzwischen verpachtet haben.

Auf die Barrikaden

Dass Erich nun das Handtuch schmeisst, dürfte den einen oder anderen in der Stadt auch freuen. Erich hat sich in all den Jahren nicht nur Freunde gemacht und gerne provoziert. Etwa mit einer Tampon-Deko oder mit der Chaoswoche im «Caramba», während der eine Woche lang nichts abgewaschen oder fortgeschmissen wurde. Mit der Revolution gegen die Polizeistunde oder einer Blockade der Metzgergasse während der AarGrandissimo, aus Protest gegen die hohen Preise, die die Wirte für die Aussenstände bezahlen mussten, oder dem Aufstand gegen das Rauchverbot mit vor dem Restaurant verteilten Zigarettenschachteln. Zweimal kandidierte Erich für den Stadtrat und gründete seine Einmannpartei «Wage es», weil er sich mit keiner der bestehenden Parteien identifizieren konnte.

Berühmt-berüchtigt war auch Erichs «Werbegag», wie er es nennt: Wer an seinem Geburtstag in die «Waage» kam, wurde von Erich geküsst. Ungefragt. Mitten auf den Mund. Egal, ob Frau oder Mann, jung oder alt, wüst oder schön, betrunken oder nüchtern. Nur volljährig mussten die Geburtstagskinder sein. Neun Jahre lang habe er das getan, einmal kassierte er eine Ohrfeige, einmal eine Faust. Als eine entsetzte Mutter ihm mit einer Anzeige drohte, hörte er damit auf.

Originale verlieren ein Zuhause

Und jetzt hört er also ganz auf. Bei seinen Gästen sei die Nachricht über das Aus schlecht angekommen. «Es sind Tränen geflossen.» Manche hätten spontan angekündigt, Unterschriften oder Geld zu sammeln, damit Erich bleibt. Aber eben, das nützt nichts. «Ich höre aus freien Stücken auf, weil ich will und nicht, weil ich muss.» Er hätte auch einen Nachfolger an der Hand gehabt, aber daraus wird nichts. «Die Hauseigentümer sind sich nicht einig, was die Zukunft des Hauses anbelangt», sagt Erich. Natürlich tue es ihm weh, dass es mit der «Waage» nicht weitergeht, dass eine der letzten Chnellen verloren geht. «Es ist schon so, viele meiner Gäste sind nur noch bei mir gern gesehen. Sie verlieren ein Zuhause.»

Sein Zuhause wird die grosse weite Welt: Zusammen mit seiner Partnerin geht Erich auf Reisen. Immer der Nase nach, wie es ihnen gefällt.