Aarau
Ein «Räbhüsli» für das Oberhaupt

Das Privileg des Stadtpräsidiums am Hungerberg wird unterschiedlich stark genutzt.

Hermann Rauber
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Ein verwunschener Ort – beim «Räbhüsli» der Stadt handelt es sich mit grosser Wahrscheinlichkeit um jenes von Vater Johann Rudolf Meyer. Ueli Wild

Ein verwunschener Ort – beim «Räbhüsli» der Stadt handelt es sich mit grosser Wahrscheinlichkeit um jenes von Vater Johann Rudolf Meyer. Ueli Wild

Ueli Wild

Wer von der Zinne neben der Stadtkirche oder vom Weg entlang des Oberwasserkanals der Aare den Blick gegen den Hungerberg richtet, entdeckt mit etwas Glück unterhalb des Waldrandes ganz im Westen an der Stadtgrenze zu Erlinsbach einen weiss gekalkten, schmalen, einstöckigen Bau. Es handelt sich um eines der zwei letzten Aarauer «Räbhüsli». Ein weiteres – vom Ende des 19. Jahrhunderts und anderen architektonischen Zuschnitts – steht auf dem Land der benachbarten Villa «Rebhalde«. Ein gutes Dutzend «Räbhüsli» gab es einst am Hungerberg. Die Zeugen eines einst mehr oder weniger blühenden Landwirtschaftszweigs erinnern zusammen mit den Strassennamen «Rebhaldenweg» und «Weinbergstrasse» sowie dem Restaurant Weinberg an das Winzergewerbe, das in Aarau kurz vor dem Ersten Weltkrieg aufgegeben wurde.

Einst ein saurer Tropfen

Bezeugt ist der Rebbau am Hungerberg seit 1344 (siehe Box links). Zu den Besitzern von Rebland gehörten neben dem Kloster St. Ursula in der Halde auch Privilegierte aus der Bürgerschaft. Um die Mitte des 15. Jahrhunderts gab es gar eine Bruderschaft der Reb- und Ackerlüten, die mit der Reformation wieder verschwand. Die Weinproduktion war grossen Schwankungen unterworfen, der «Hungerbergler» dürfte in den meisten Jahren eher eine saure Angelegenheit gewesen sein. Die Aarauer jedenfalls beklagten sich wohl nicht ohne Grund bei den Gnädigen Herren in Bern mehrfach über die restriktive Importpolitik in Bezug auf qualitativ besseren Rebensaft.

Klosterfrauenwein

Erstmals erwähnt wird ein Aarauer Rebberg in einer Urkunde vom 1. April 1344: Schwester Gerdrut Wagner schenkte dem Konvent St. Ursula in der Halde (heute Altersheim Golatti) unter anderem «min teil an eim wingarten, lit am Hungerberg». Gepflegt hat diesen offenbar der «Löwen»-Wirt. Drei Wochen später garantierte ihr die Priorin der Samnung den Nutzen zu Lebzeiten. Gerdrut Wagner gilt als Stifterin des von den Schwestern ins Leben gerufenen Spitals in der Vorstadt. Mitte Januar 1344 schenkte sie dem Spital ihr Haus daselbst und am 1. April des gleichen Jahres einige Güter in der Region. Der Brunnen am Rain erinnert an sie. (uw)

Es war am Ende des 18. Jahrhunderts der Seidenbandfabrikant und helvetische Senator Johann Rudolf Meyer, der dem Aarauer Rebbau kurzfristig zu neuem Schwung verhalf. Vater Meyer pflanzte bessere Rebstöcke aus dem Ausland, und er verpflichtete auch fachkundige Winzer aus anderen Gegenden, die den Aarauer Rebleuten mit Rat und Tat unter die Arme greifen sollten. Meyer bewirtschaftete einen eigenen Weinberg, in dem er «viele Abendstunden verbrachte».

Mit höchster Wahrscheinlichkeit handelt es sich beim Rebhäuschen der Stadt um jenes von Johann Rudolf Meyer. Die Initialen JRM an einem Holzbalken deuten darauf hin. Dieser Teil des ehemaligen Rebbergs, knapp unter dem Waldrand, blieb unüberbaut, weil er vor bald hundert Jahren nicht erschlossen werden konnte.

Das Meyersche «Räbhüsli» gehört längstens der Einwohnergemeinde Aarau. Der einfache Bau mit einem einzigen Raum ohne jeglichen Komfort steht nach einem ungeschriebenen Gesetz dem Stadtpräsidium ad personam zur Benützung zur Verfügung. So lud der ehemalige Stadtammann Markus Meyer hin und wieder enge Freunde zu einer Diskussionsrunde ein. Sein Nachfolger, Marcel Guignard, hat das «Räbhüsli» «jahrelang häufig und sehr gerne genutzt». Der Platz sei vor allem an Sonntagnachmittagen im Sommer «für die ganze Familie eine Art Gartenersatz» gewesen. Man habe oft Gäste eingeladen und «fröhliche Stunden bei Speis und Trank verlebt», obwohl das «Räbhüsli» noch heute weder über einen Stromanschluss noch über eine Toilette verfüge.

Der Stadtrat tagte auch schon hier

Die Benutzung war aber nicht ganz unentgeltlich, Marcel Guignard zahlte nach eigenen Angaben einen «bescheidenen Jahreszins von zuletzt 650 Franken». Besonders geschätzt hätten Familie und Gäste den grossen Steintisch im Garten, an dem «hin und wieder unter freiem Himmel eine Sitzung des Aarauer Stadtrates stattfand». Gegen Ende seiner Amtszeit verzichtete Guignard auf sein alleiniges Vorrecht. Das «Räbhüsli» stand fortan gegen ein kleines Entgelt allen Mitgliedern des Stadtrates für einen Anlass zur Verfügung.

Während Jolanda Urech die Lokalität wenig in Anspruch nahm, kümmerte sich Vizestadtpräsidentin Angelica Cavegn Leitner «mit Herzblut» darum. Sie sorgte nicht nur regelmässig für die Entfernung der Spinnweben, sondern auch für einen neuen Tisch und Stühle, war doch das alte Mobiliar dem Holzwurm zum Opfer gefallen.

Cavegn verbrachte auch zweimal den Bundesfeiertag mit Familie und Freunden oben am Hungerberg. Ein Anklang an die Romantik des 19. Jahrhunderts. Zu Zeiten des aktiven Rebbaus waren die «Räbhüsli» nämlich vor allem zur Zeit der Traubenernte Schauplatz froher Feste, bei denen sich die stolzen Besitzer nicht lumpen liessen.