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Ehemalige Verding- und Heimkinder können nur noch bis Ende März beim Bund ein Gesuch um einen Solidaritätsbeitrag einreichen. Jetzt gehen die Initianten der Wiedergutmachungsinitiative im Aargau von Altersheim zu Altersheim, um Betroffene zu ermutigen sich zu melden.
Die Zeit drängt. Nur noch bis zum 31. März 2018 können ehemalige Verding- und Heimkinder und andere Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen, die vor 1981 passiert sind, beim Bund ein Gesuch um einen Solidaritätsbeitrag einreichen. Zur Verfügung stehen insgesamt 300 Millionen Franken; ausbezahlt werden pro Person maximal 25 000 Franken. «Es gibt in der Schweiz 12 000 bis 15 000 Menschen, denen Schlimmes widerfahren ist und die Anrecht auf diesen Betrag haben», erklärte Guido Fluri, der Initiant der Wiedergutmachungsinitiative.
Antoinette Burkhalter von der Beratungsstelle Aargau-Solothurn schätzt, dass es in den beiden Kantonen bis zu 1500 anspruchsberechtigte Personen gibt. Aber bisher haben sich aus den beiden Kantonen nur rund 400 Personen bei der Opferhilfe gemeldet; aus dem Aargau sind bisher gut 200 Gesuche konkret eingereicht worden. Monatlich erfolgen zwischen 20 und 40 neue Anfragen.
Auf seiner Informations- und Mobilisierungstour durch die Schweiz machte Guido Fluri im Aarauer Altersheim Golatti Halt. «Wir möchten möglichst verhindern, dass Menschen, die Anspruch auf das Geld haben, die Frist verpassen», sagte Fluri. Deshalb besucht er systematisch zahlreiche Altersheime in der Schweiz und lädt nicht nur Betroffene, sondern vor allem Institutionen ein, die mit allfälligen Betroffenen in Kontakt sind: Fachleute aus Altersheimen und Spitex, Seelsorger, Sozialarbeiter, pensionierte Hausärzte, Medien aller Art.
In Aarau kommt nur gerade ein Dutzend Leute in den Golatti-Keller. «Das haben wir nicht anders erwartet», sagte Projektleiter Theo Halter von der Guido-Fluri-Stiftung. Man habe auf die Veranstaltung hin zahlreiche Institutionen und Organisationen mit den notwendigen Informationen versorgt und über die Medien werde nun der Aufruf zusätzlich unter die Leute gebracht. «Dass ein Direktbetroffener selber an eine Informationsveranstaltung kommt, ist eher ungewöhnlich.»
Halter erklärte, dass das Einreichen eines Gesuches sehr einfach und die Beratungsstelle Opferhilfe gerne behilflich sei. Der Solidaritätsbeitrag dürfe aber nicht als Schmerzensgeld missverstanden werden. «Viele Verding- und Heimkinder erlebten körperlichen oder psychischen Missbrauch – dieses Leid kann nicht mit Geld aus der Welt geschafft werden.» Der Beitrag sei eine Form der Entschuldigung. Entsprechend ist der Solidaritätsbeitrag steuerfrei, hat keinen Einfluss auf allfällige Ergänzungsleistungen und bleibt vertraulich.
Doch warum melden sich die Betroffenen nur zögerlich? «Viele der ehemaligen Verdingkinder sind heute alt und leben isoliert», sagt Theo Halter. «Sie wissen deshalb oft gar nicht, dass sie Geld zugute haben.»
Antoinette Burkhalter nennt einen weiteren Grund: «Ich stelle fest, dass manche der Betroffenen gar nicht über ihre Kindheit reden wollen oder können.» Es falle ihnen schwer, über das ihnen widerfahrene Leid und Unrecht zu sprechen. Oft schämten sie sich sogar dafür. Sie erlebe aber auch, dass einige nicht einmal ihren Nächsten von ihrer Vergangenheit erzählt hätten. «Sie fürchten sich vor den Folgen, die ein solches Outing auf die Beziehungen innerhalb der Familie haben könnten. Deshalb schweigen sie lieber und verzichten auf das Geld.» Betroffenen steht die Opferhilfe verschwiegen und unkompliziert zur Seite.