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Am Kantonsspital Aarau (KSA) hat eine Pflegefachfrau einen ganz besonderen Nebenjob. An einem Tag in der Woche taucht Claudia Steger mit schwerkranken Kindern ein – in die wundervolle Fantasiewelt der Figurenspieltherapie.
Als Rosalie am winzigen Hebel der aufziehbaren Spieldose dreht, erklingen die Töne von Edith Piafs «La Vie en Rose». Damit beginnt und endet jede Figurenspieltherapiestunde bei Claudia Steger. Rosalie weiss das genau, denn das achtjährige Mädchen besucht die Therapie regelmässig. Rosalie hat Leukämie, und dies bereits zum zweiten Mal. «Sie hatte die Intensivtherapie vor rund einem Jahr abgeschlossen. Kurz vor Weihnachten hatte sie einen Rückfall», erzählt ihre Mutter.
Wie viele Eltern kranker Kinder, die am Kantonsspital Aarau (KSA) behandelt werden, weiss die Mutter, dass Rosalie in der Therapie bei Claudia Steger in allerbesten Händen ist. Steger arbeitet zu 80 Prozent als Pflegefachfrau auf der Station der Kinderonkologie und Kinderchirurgie. Dabei kümmert sie sich vor allem um schwerkranke Kinder. Nach 10 Jahren auf dem Beruf suchte sie eine Ergänzung zu ihrem Job, den sie unglaublich gerne macht, wie sie sagt. Deshalb liess sie sich in Interlaken berufsbegleitend zur Figurenspieltherapeutin ausbilden. Inzwischen darf sie am KSA 20 Prozent ihres Pensums dieser Aufgabe widmen.
Auf einem alten, liebevoll umgebauten Verbandswagen stehen an die 25 Handpuppen. Ärztinnen, Zauberer, Indianer oder auch Prinzen und Königinnen: Die Auswahl an Figuren und Requisiten ist gross. Claudia Steger hat diese alle selbst gemacht. Für die Herstellung einer solchen Figur braucht sie rund zwei Tage. Rosalie wählt zum Spielen einen Koch und einen Clown und zieht dann aus einer Schachtel ihre eigene Handpuppe hervor: Melina. Eine braunhaarige Zauberin in einem blauen Samtkleid. Rosalie hat Melina hier in der Therapie gemeinsam mit Claudia Steger gebastelt und zum Leben erweckt.
Der lilafarbene Rucksack, aus dem ein Infusionsschlauch zur Medikamentenzufuhr ragt und mit Rosalies Körper verbunden ist, scheint schnell vergessen. Rosalie ist schnell drin, in der Fantasiewelt, die Therapeutin Claudia Steger für sie und alle kranken Kinder öffnet. Hier im Therapiezimmer ist Claudia Steger für die Kinder in einer ganz anderen Rolle als sonst. Sie trägt normale Kleider statt der gewohnt weissen Spitalkleidung.
Kinder, die so krank sind, können fast nicht mehr Kind sein.
(Quelle: Claudia Steger, Figurenspieltherapeutin am KSA )
Die Kinder wüssten ganz genau, dass sie hier in der Therapie nichts müssen, sagt Steger: «Sie müssen in dieser ganzen Zeit so vieles. Im Spital sein, Tabletten schlucken, den Arm hinhalten.» In der Figurenspieltherapie dürfen sie selbst bestimmen, was gespielt wird. Der Fokus liegt auf den Fähigkeiten und Interessen des Kindes. Sie sollen so entlastet werden: «Sie erleben so viele Sachen, die nicht kindsgerecht sind. Kinder, die so krank sind, können fast nicht mehr Kind sein.»
Claudia Steger hat eine liebe Stimme und ein herzliches Lachen. Bei ihr können die Kinder das verarbeiten, was sie während der schweren Krankheit erleben müssen. Sie ersetze mit der Figurenspieltherapie keine Psychologen, sondern sei eine Ergänzung dazu. Sie habe über all die Jahre gelernt, dass es Kindern oft schwerfällt, mit Worten auszudrücken, was sie beschäftigt: «Das Spiel ist die Sprache der Kinder.»
Welche Figuren wofür stehen und was sie jeweils zueinander sagen, entscheiden die Kinder allein. Der Inhalt des Spiels stehe oft stellvertretend für das, was das Kind gerade erlebt: «In den Requisiten habe ich ein Arztköfferchen. Dieses wird im Spiel oft genutzt. Dass jemand verletzt ist oder Unterstützung braucht, kommt häufig vor.» Weil die Kinder Claudia Steger bereits aus der Pflege kennen, vertrauen sie ihr. «Sie haben nicht das Gefühl, dass sie mir erzählen müssen, welche Krankheit sie haben.» Dasselbe gilt auch für die Eltern. Kranke Kinder wüssten oft sehr gut, was ihnen helfen würde, damit es ihnen besser geht: «Ich habe ein Kind, das bereits 25 Stunden lang zu mir in die Therapie gekommen ist. Es wollte sicher in 23 Stunden davon Haare schneiden spielen. Und das Kind hat keine Haare.» Claudia Steger hat deshalb einen Kopf gebastelt, auf dem man immer wieder Wollhaar befestigen kann: «Das Kind wird bei mir in der Therapie so lange Haare schneiden, wie es das braucht», sagt sie.
In der Figurenspieltherapie gehe es aber auch darum, dem Kind spielerisch Möglichkeiten aufzuzeigen, um es zu stärken oder auch Probleme zu lösen. «Wenn ein Kind in drei aufeinanderfolgenden Therapiestunden spielt, dass sich ein Mäuschen nicht traut, aus einer Höhle rauszukommen, frage ich das Kind behutsam, was das Mäuschen brauchen könnte, damit es sich vielleicht doch mal hinaustraut.» Etwas zu essen oder auch einen Freund? «Alles, was im Spiel geschieht, passiert für ein Kind wirklich», sagt Steger. Eine Figur könne nichts falsch machen. «Die Kinder erleben sich so handelnd und merken, dass Lösungen ausprobiert und gefunden werden können.»
Mittlerweile hält Rosalies Handpuppe Melina einen Besen in der Hand und unterhält sich mit dem Clown, der sich auf der Hand von Claudia Steger bewegt. Rosalie lächelt permanent. Zwischen ihr und der Therapeutin ist ein spürbares Vertrauen da. «Sie geht jedes Mal freudestrahlend rein und kommt freudestrahlend wieder raus», sagt ihre Mutter. Wegen Rosalies schwerer Erkrankung sind sie einen Grossteil ihrer Zeit unterwegs in Spitälern. «Und das hier ist uns nie zu viel. Wir nehmen diesen Weg gerne auf uns, selbst wenn keine medizinische Notwendigkeit besteht. Für Rosalie ist das einfach Quality Time.»
Rund eine Stunde dauert eine solche Therapiesession. Die Kinder kommen im Schnitt alle zwei Wochen her. Sie kommen oft auch dann noch weiter zu Claudia Steger, wenn sie die Chemotherapien schon beendet haben. «Es kann auch eine Begleitung sein für den Abschluss, wenn sie das Spital nicht mehr brauchen.» Dank dem umgebauten Verbandswagen ist Claudia Steger mobil. Wenn es einem Kind nicht gut genug geht, und es auf der Station ist, bringt sie die Figurenspieltherapie zum Kind ins Zimmer.
Manchmal gibt es auch Geschichten, die kein positives Ende nehmen. Claudia Steger wird für einen Moment nachdenklich. Dass ein Kind stirbt, musste sie schon ein paar Mal erleben. «Es sind sehr schwierige Momente. Wir kennen die Kinder gut und wir kennen die Eltern gut.» Steger spricht hier vor allem als Pflegende, nicht nur als Therapeutin. «Ich habe auch schon einem Kind mit Figurenspieltherapie geholfen, sich mit seinem Tod auseinanderzusetzen.» Helfen, loszulassen. Dafür gebe es kein Erfolgsrezept. Im Alltagsgeschäft vergesse sie aber, wie schwer krank diese Kinder sind. «Ich sehe auch gar nicht mehr, dass sie keine Haare mehr haben.» Denn das stehe für die Kinder nicht im Vordergrund. «Für die Kinder steht im Vordergrund, dass sie leben. Und ich denke jeden Tag: Diese Kinder sind Könige. Wie sie das meistern. Das ist unglaublich.»