Bezirksgericht Aarau
Sexuelle Belästigung: Prozess unterbrochen, weil niemand aussagen wollte

Ein rund 30-jähriger Schweizer soll im öffentlichen Verkehr und an Bahnhöfen Frauen sexuell belästigt und beschimpft haben. Es blieb bei einer Busse, weil die Beschimpfung doch keine war.

Florian Wicki
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Vor dem Bezirksgericht zeigt sich der Beschuldigte reuig – auch wenn sich alles anders zugetragen haben soll.

Vor dem Bezirksgericht zeigt sich der Beschuldigte reuig – auch wenn sich alles anders zugetragen haben soll.

Severin Bigler
(Februar 2020)

Markus (alle Namen geändert) sitzt mit einer selbsttönenden – und darum ein bisschen zu dunklen – Brille auf der Anklagebank. Er ist knapp in den Dreissigern und leidet schon seit Geburt an einer Krankheit, wie er auch zu Beginn gleich selber erklärt: «Atypischer Autismus, das ist mit dem Asperger-Syndrom zu vergleichen.» Deshalb fielen ihm auch soziale Kontakte schwer, er habe Mühe, zu erkennen, wenn er nicht erwünscht sei. Er befinde sich aber inzwischen in Therapie und lerne nun, sein Gegenüber besser zu lesen, das helfe.

Sind Trainerhosen asozial oder die Person, die sie trägt?

Die Staatsanwaltschaft schreibt in ihrer Anklageschrift, Markus habe sich vor rund zwei Jahren im Zug zur damals 23-jährigen Sabrina gesetzt. Diese habe ihn erst ignoriert: «Daraufhin fasst der Beschuldigte mit seiner rechten Hand unvermittelt und ohne vorherige Konversation auf den linken Oberschenkel der Strafklägerin.» Sabrina habe seine Hand weggeschlagen, worauf Markus gelacht habe.

Nach dem Ausstieg in Aarau soll er sie erst gefragt haben, ob sie mal mit ihm baden gehe, er wolle sie ohne Bekleidung sehen. Dann – nach einer weiteren Zugfahrt – soll er sich ihr laut Anklageschrift noch mal genähert haben: «Dort sagte er der Strafklägerin, dass er diese gerne zu sich nach Hause nehmen und flachlegen würde.» Als er sich dann noch einmal genähert habe, soll sie ihn getreten haben und davongerannt sein.

Rund zwei Monate später näherte er sich ihr am Busbahnhof in Aarau noch einmal. Als sie weglief, sei er ihr gefolgt und habe ihr gesagt, sie solle mit ihm in die Sauna kommen, damit er sie endlich ohne Kleidung sehe. Weiter habe er Sabrina gesagt, sie sehe aufgrund ihrer Kleidung – Zitat Staatsanwaltschaft – «wie ein Assi» aus.

Im Sommer kam es laut Staatsanwaltschaft zu einem nächsten Vorfall, nun mit einer Minderjährigen. So soll Markus – erneut am Bahnhof Aarau – auf die damals 13-jährige Melissa zugegangen sein und ihr gesagt haben, er bevorzuge Frauen, die Leggings und nicht wie sie Jogginghosen tragen. Als sie den Zug betreten habe, habe er sie am Arm gepackt, ihr zwei, drei Sekunden lang an den Hintern gefasst und sei ihr nachgelaufen. Im Innern des Zuges habe sie ihn angewiesen, sie in Ruhe zu lassen, erst dann habe er sich entfernt.

Vielleicht sei schon ein kleiner «Anmachspruch» gefallen

Für die Beschimpfung «Assi» und die zwei sexuellen Belästigungen fordert die Staatsanwaltschaft eine bedingte Geldstrafe von 20 Tagessätzen à 20 Franken, eine Busse von 1200 Franken und ein lebenslanges Verbot von organisierten Tätigkeiten mit Minderjährigen.

Laut Markus lief fast alles anders ab. Sabrina habe er gekannt, er habe sich aber an diesem Tag nicht zu ihr ins Abteil gesetzt, geschweige denn sie angefasst. Sie hätten sich am Bahnhof getroffen, er sei unterwegs an einen See gewesen. Es könne schon sein, dass er sie gefragt habe, ob sie mitkommen wolle, aber nicht, um sie ohne Kleidung zu sehen. Vielleicht sei schon ein kleiner «Anmachspruch» gefallen, räumt er ein, weswegen sie ihn dann auch getreten habe. Auch die mutmassliche Beschimpfung sei keine gewesen, so Markus. Er habe nur seine Meinung geäussert, dass er Trainerhosen «asozial» fände.

Auch Melissa habe er nie angefasst. Er habe auch nicht gewusst, dass sie minderjährig sei, hätte sie schon auf um die 20 Jahre alt geschätzt. Er habe sie lediglich angesprochen, weil sie ihn interessiert habe, habe sie gefragt, ob sie Studentin sei – aus «Sicherheitsgründen», wie er verschmitzt erklärt; um zu schauen, ob sie denn schon volljährig sei. Auf die Frage von Richterin Keller, warum er sie das gefragt habe, wenn er doch davon ausgegangen sei, dass sie um die 20 Jahre alt sei, hatte Markus keine Antwort parat.

Ein Opfer dispensiert, das andere will nicht aussagen

Ob er denn arbeitstätig sei, will Richterin Keller wissen. Und Markus seufzt. Wegen seines psychischen Geburtsgebrechens sei er auf die Invalidenversicherung angewiesen, er wolle aber arbeiten. Zuletzt habe er es im KV an einem geschützten Arbeitsplatz versucht, sei jetzt aber wieder auf der Suche. Ob er denn Hobbys habe, fragt Keller weiter, und Markus strahlt. Er sei begeisterter «Plane-Spotter», er beobachte und fotografiere Flugzeuge.

Bis dahin konnte sich das Gericht nur die Anklage und den Beschuldigten anhören. Sabrina liess sich wegen einer Corona-Erkrankung mittels Arztzeugnis dispensieren. Melissa war zwar im Gerichtsgebäude, wollte aber auf keinen Fall in die Nähe von Markus kommen – der Prozess wurde unterbrochen und einen Monat später fortgesetzt, Sabrina noch einmal eingeladen.

Zum Schluss glaubte Richterin Bettina Keller den Ausführungen von Sabrina und verurteilte Markus wegen mehrfacher sexueller Belästigung zu einer Busse von 750 Franken. Die Strafe fiel deutlich milder aus als von der Staatsanwaltschaft gefordert; im Fall der – minderjährigen – Melissa wurde Markus freigesprochen, weil diese keine verwertbaren Aussagen gemacht habe, folglich fiel auch das Tätigkeitsverbot weg. Auch freigesprochen wurde Markus vom Vorwurf der Beschimpfung, Richterin Keller kam zu Schluss, dass sich diese auf die Hose selber und nicht auf Melissa als Person bezogen habe.

Die Beschimpfung hätte schlimmere Konsequenzen gehabt als die sexuelle Belästigung, da erstere in der Schweiz als Vergehen und letztere nur als Übertretung geahndet wird.