Aarau
Selbst Schreibfehler wurden den Kandidaten angekreidet

Die Aarauer Stadtratswahlen vor 100 Jahren hatten es in sich: 1917 wurde zum Wahlkrimi, 1921 wurde davor heftig ausgeteilt.

Katja Schlegel
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Ein Flyer aus dem Wahlkampf für den Aarauer Stadtrat 1921.

Ein Flyer aus dem Wahlkampf für den Aarauer Stadtrat 1921.

Stadtarchiv Aarau

Diesen Sonntag ist Wahltag. Ruhig und gelassen waren die letzten Wochen, von Wahlkampf war nicht viel zu spüren. Dass das in Aarau auch schon ganz anders war, zeigt der Blick in die Geschichtsbücher. Besonders hitzig verliefen die Wahlen beispielsweise vor 104 und 100 Jahren: 1917 brauchte es drei Wahlgänge, bis die Aarauer wieder einen kompletten Stadtrat hatten. Und 1921 bodigten die Genossen ihren eigenen Stadtrat.

1917 hatte vordergründig nichts auf einen Eklat hingewiesen. Die Sitzverteilung war seit Jahren klar geregelt: sechs bürgerliche Vertreter und einer für die Arbeiterschaft. Doch hinter den Kulissen hatte die 1916 gegründete städtische SP den Hosenlupf vorbereitet. Statt einen Kandidaten präsentierte sie zwei: den Bisherigen Karl Rüetschi, Coiffeur, und den Neuen Alfred Hartmann, Schuhmacher.

Flyer aus dem Wahlkampf.

Flyer aus dem Wahlkampf.

Stadtarchiv Aarau

Die SP vermochte damit die Sechserliste der Bürgerlichen zu sprengen. Der freisinnige Ständerat und amtierende Vizeammann Gottfried Keller wurde im Oktober nach 16 Jahren überraschend abgewählt. Rüetschi und Hartmann waren gewählt.

Es galt Stimmzwang – unentschuldigtes Fehlen kostete 1.50 Franken

Gewählt wurden die Stadträte von der Gemeindeversammlung. Das heisst: Alle 2283 Aarauer Stimmberechtigten mussten im Saalbau antraben. Es galt Stimmzwang. Wer nicht an der Wahl teilnehmen konnte, musste sich vorgängig schriftlich beim Stadtammann entschuldigen. Wer unentschuldigt fehlte, wurde mit 1.50 Franken gebüsst.

Die Freude der SP war von kurzer Dauer. Der Kanton hiess eine Beschwerde aus dem bürgerlichen Lager gut, die Unstimmigkeiten bei der Anzahl an die Stimmberechtigten verteilten Kontrollmarken ausgemacht hatte. Die Wahl wurde am 1. Dezember wiederholt.

Fridolin – Spitzname Fritz – Laager auf der Wahlliste der Bürgerlichen.

Fridolin – Spitzname Fritz – Laager auf der Wahlliste der Bürgerlichen.

Stadtarchiv Aarau

Die Bürgerlichen traten mit einem Ersatzkandidaten für den abgewählten Keller an: Anwalt Fridolin Laager. Dieser schaffte die Wahl im ersten Anlauf, genauso wie die anderen fünf bürgerlichen Kandidaten. Das absolute Mehr verpassten nun die beiden SP-Kandidaten.

Als das Resultat bekannt wurde, brach ein Tumult los, eine stattliche Zahl wütender und enttäuschter Genossen verliess den Saal durch Fenster und Notausgänge. Die Wahl wurde fortgesetzt, als siebter Mann gewählt wurde der von «unabhängigen Bürgern» lancierte Moritz Gisler.

Erneut ging eine Wahlbeschwerde ein, diesmal von linker Seite: Mit der Flucht der Stimmberechtigten sei das Quorum von 50 Prozent unterschritten gewesen. Die Wahl Gislers wurde für ungültig erklärt. Am 7. Januar 1918 wurde Karl Rüetschi im dritten Wahlgang zum siebten Stadtrat gewählt.

«Es wäre schwarzer Undank»

Der Wahlkrimi fand 1921 seine Fortsetzung. Wieder stellten die Bürgerlichen eine Sechserliste auf, wieder nominierte die
SP zwei Kandidaten. Doch nicht etwa Karl Rüetschi, seit 16 Jahren im Amt. Sondern erneut Alfred Hartmann und neu Giesser H. Werner. Rüetschi trat zwar zur Wahl an, aber nicht mehr für die Sozialdemokraten, sondern als «Grütlianer» (der Grütliverein war eine mit der SP verbundene Gewerkschaftsorganisation) an. Rüetschi war wegen der Grossratswahlen aus der Arbeiterpartei ausgetreten.

Die Wahlliste des Grütlivereins.

Die Wahlliste des Grütlivereins.

Stadtarchiv Aarau

In den Wochen vor der Wahl flatterten die Flugblätter: Der Vorstand der SP bezeichnete Rüetschi in einem als «Sesselkleber», dem kein rechtdenkender, noch etwas auf politische Sauberkeit haltender Wähler seine Stimme geben dürfe. Andere «Arbeiter» (so zeichneten sie ihren Wahlflyer) hielten dagegen, Rüetschi müsse wiedergewählt werden, «es wäre schwarzer Undank, wenn wir ihm nach 16-jähriger Tätigkeit unsere Unterstützung versagen würden.»

«Wähler aus allen Kreisen der Bevölkerung» wiederum warnten davor, Alfred Hartmann zu wählen. Und das mit unzimperlicher Wortwahl: Kandidat Hartmann sei von Machthabern aufgestellt worden, die «im Verein mit ihren Weibern und Schwiegermüttern die Arbeiterschaft terrorisieren» wollten. Hartmann fehlten alle Fähigkeiten für dieses Amt, «sehr mangelhafte Schreibweise sei nur nebenbei erwähnt».

«Gehört ein solcher Mann in unseren Gemeinderat?»

«Gehört ein solcher Mann in unseren Gemeinderat?»

Stadtarchiv Aarau

An der Wahl am 11. November 1921 erschienen 1730 der 2474 Stimmberechtigten. Die sechs bürgerlichen Kandidaten wurden im ersten Wahlgang gewählt: Stadtammann Hans Hässig, Vizeammann Fridolin Laager, Lagerhausdirektor Josef Meyer, Ingenieur Gottlieb Lüscher, Buchhalter Emil Gysel, und Schlossermeister Karl Mösch. Im zweiten Wahlgang ergatterte Hartmann den siebten Sitz. Hartmann blieb 36 Jahre, bis 1957, im Amt.