Die Aarauer Altstadt mäandriert seit gut 100 Jahren zwischen Mittelalter und Moderne. Eine Führung anlässlich der Europäischen Tage des Denkmals sorgte für viel Verwunderung und die eine oder andere Überraschung.
Man möchte sich die Augen reiben, verdutzt, wie man ist. Terrassenhäuser? Am Ziegelrain? Tatsächlich. Die Skizze zeigt rechts den Oberturm, hinten die Häuserzeile der Golattenmattgasse. Davor Reihenhäuser mit Dachterrassen. Die Landjägerwache ist verschwunden, an ihrer Stelle gibt es eine Aussichtsplattform – und eine Tiefgarageneinfahrt, der Durchgangsverkehr ist aufgehoben.
Ja, es ist viel Verwunderung auf diesem öffentlichen Stadtrundgang mit dabei, einem von Dutzenden, die anlässlich der Europäischen Tage des Denkmals schweizweit stattgefunden haben. «100 Jahre Weiterbauen an der Altstadt» ihr Titel, durchgeführt von Melchior Fischli, neu Dozent für Architekturgeschichte an der Fachhochschule Bern, bis Ende 2020 Mitarbeiter der Denkmalpflege Aargau. Verwunderung also. Dazu die alte Gewissheit, dass sich Geschmäcker ändern – und womöglich die Überraschung, dass die Aarauer Altstadt heute mittelalterlicher daherkommt, als sie es je war.
Bis etwa 1900 ist es einfach: Die heutige Altstadt ist die Stadt und alles davor die Vorstadt. Man reisst ab, baut und erweitert, je nach Bedarf. Erst Ende des 19. Jahrhunderts keimt in den Schweizern das Interesse für ihre Altstädte, man preist ihre malerischen Ecken, will diese erhalten. In Aarau fängt man an, die Giebel zu bemalen.
«Nach 1900 kommt eine neue Art des Bauens in Altstädten auf, man will Wohnungen besser machen, modernisieren – aber auch das Stadtbild pflegen», so Fischli. Das Ergebnis: Neue Häuser mit anständigen, zeitgemässen Wohnungen, die ins Stadtbild passen; Fischli zeigt als Beispiel Rathausgasse 9 und 11: ein Haus, das 1957 vier alte Häuser ersetzte, optisch und adresstechnisch in zwei Häuser unterteilt. Für sich allein betrachtet ein Fremdkörper, im grossen Ganzen aber unauffällig.
Die Rathausgasse ist ein guter Standort für weitere Beispiele: Gegenüber, das zeigen Aufnahmen aus den Neujahrsblättern, gab es im 19. Jahrhundert riesige Schaufensterfronten. Doch was heute wieder gefallen würde, war den Aarauern vor 100 Jahren ein Dorn im Auge. Ein «Einbruch der Moderne», man habe damit «dem alten Haus in schlimmster Weise den Bauch aufgerissen», schnödeten Experten.
Also mauerte man die Freizügigkeit wieder zu und ersetzte, was als zu modern erschien, radierte das 19. Jahrhundert aus dem Stadtbild: Fischli zeigt einige Beispiele pseudo-mittelalterlicher Bauten in der Metzgergasse und der Laurenzentorgasse. Es ist verblüffend: Mit Krüppelwalmdächern und Treppengiebeln, mit Wandmalereien oder gesetztem Riegelwerk lässt sich ein profaner Neubau gut auf Mittelalter trimmen. Ein historischer Zustand, streng einem Idealbild entsprechend, Fischli nennt das «Anpassungsarchitektur».
Doch dann wandelt sich das Verständnis: Es kommen die Sechzigerjahre mit ihrem Lechzen nach Moderne, nach grosszügigem Neudenken. Man will weg vom Altertümelnden, sucht den Bruch. So wie mit dem Überbauungsvorschlag Ziegelrain. Er stammt aus der Studie «Planen und Bauen in der Altstadt», 1961 herausgegeben von der Studiengruppe SIA Sektion Aargau, verfasst von zwölf hiesigen Architekten und drei Beratern.
Die Gruppe wollte die Altstadt in ihrem Charakter erhalten, schlug aber vor, in sehr modernen Formen neu zu bauen: «Ein Nebeneinander von Alt und Neu darf, sofern eine Spannung mit guter Wirkung erzielt wird, nicht abgelehnt werden, vielmehr ist der Weg zu einer guten Schöpfung zu fördern. Historisierung im Baustil ist abzulehnen, das Recht auf zeitgemässe Ausdrucksweise zu bejahen.» Während die Idee für den Ziegelrain Idee blieb, fand eine andere 20 Jahre später in zurückhaltenderer Form ihre Umsetzung: die Gestaltung des Färberplatzes mit der heutigen Markthalle statt eines Marktplatzes auf zwei Etagen, wie er 1961 vorgeschlagen worden war.
Der heutige Betrachter mag die Skizzen als verrückte Ideen abtun und ob der halbbatzig auf Mittelalter getrimmten Häuser die Nase rümpfen – zementiert wären zumindest wieder zwei Erkenntnisse: Geschmäcker ändern sich. Und extreme Ideen helfen, Eingekrustetes aufzubrechen.