Aarau
Aarauer Kanti-Projekt mit unbegleiteten minderjährigen Asylbewerbern: Begegnungen beeinflussen die Weltsicht

«Begegnungen erleben» – unter dieser Affiche kam gestern eine halbe Kantiklasse in Kontakt mit jungen Flüchtlingen.

Peter Weingartner
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Zoé und Olivia essen mit unbegleiteten minderjährigen Asylbewerbern im Gemeinschaftszentrum Telli in Aarau.

Zoé und Olivia essen mit unbegleiteten minderjährigen Asylbewerbern im Gemeinschaftszentrum Telli in Aarau.

Peter Weingartner

«Davon könnten wir uns eine Scheibe abschneiden: Einstellung, Haltung, Lernmotivation», sagt Zoé, 18, Schülerin der Alten Kanti Aarau, am Projekthalbtag zum Thema «Begegnungen erleben». Sie denkt dabei an den 18-jährigen M., der vor etwas mehr als einem Jahr als Afghane über Iran, Türkei, Griechenland und Italien in die Schweiz gekommen ist. Als unbegleiteter minderjähriger Asylbewerber (UMA). Robert Studler, pensioniert, seit zwei Jahren freiwilliger Lehrer an der UMA-Schule Aarau lobt seine Zöglinge: «Sie sind sehr lernbegierig.»

Neugierig sind auch die elf Mitglieder einer halben zweiten Kantiklasse. Es sind berührende Lebensgeschichte von Menschen, die in ihrem Alter teils jünger, ihre Heimat verlassen haben, weil sie in ihrem Land keine Zukunft sahen. Es sei denn, wie im Fall von J., 22, seit fünf Jahren in der Schweiz als unbefristet verpflichteter Soldat, stets abrufbar, kaum entlöhnt.

J. (links) schreibt auf Tigrinya, Robert Studler notiert die Übersetzung.

J. (links) schreibt auf Tigrinya, Robert Studler notiert die Übersetzung.

Peter Weingartner

Sie wollen eine Zukunft

Die gleichaltrige S., ebenfalls aus Eritrea und mit dem gleichen Schicksal konfrontiert, erzählt von ihrem Fluchtweg über Sudan nach Libyen, und die Trauer übermannt sie, als sie von zwei Freundinnen erzählt, die sie dort verloren hat. Zoé reicht ihr ein Papiertaschentuch. Begegnungen erleben. Begegnen. Menschen sind nicht Zahlen, Statistiken keine Schicksale.

M. hat eine Bewilligung F vorläufig aufgenommen; auch sein Bruder und die Mutter sind hier. J. und S. sind ausreisepflichtig, müssten die Schweiz verlassen, wenn Eritrea – wo eine Diktatur herrscht – und die Schweiz entsprechende Abkommen hätten. Sie versuchen, mit Härtefallgesuchen ihren Status zu verbessern, eine Aufenthaltsbewilligung zu erreichen. Und damit eine Zukunft.

Gnade oder Fluch des Geburtsortes

Die Kantischülerinnen sind beeindruckt. Vom unbedingten Willen, ja einem gewissen Optimismus, den zum Beispiel M. ausstrahlt, der 15 Stunden in einem Lastwagen verbracht hat, glücklicherweise nicht «in einem Fleischtransporter mit Minusgraden», um von Griechenland nach Italien zu gelangen. J. würde gerne etwas mit Autos oder Elektronik machen. M., der jüngste der drei, weiss, dass es in der Schweiz 250 Berufe gibt. «Viel lernen, vor allem Deutsch», das ist sein Bestreben, und die Schülerinnen ahnen: Er könnte einer von ihnen sein. Gnade oder Fluch des Geburtsortes.

Eine eindrückliche Lektion bietet J. In der Lehrerrolle schreibt er Sätze in Tigrinya an die Tafel. Zeichen, die für uns nicht lesbar sind und bewusst machen, vor welchen Schranken Menschen stehen, wenn sie nicht einmal die Schriftzeichen kennen. Wobei ihr, so S., inzwischen selber Mutter eines Kindergartenkindes, das deutsche Alphabet vom Englischen her bekannt ist.

Kontakt mit Einheimischen, um die Sprachkompetenz zu fördern. Da helfen Vereine: J. spielt Fussball, M. Volleyball. Und S. hat in Kitas geschnuppert, lernt nun zusammen mit ihrem Kind auch Mundart. «Wir sind angewiesen auf Mentorinnen und Mentoren, die einen Tag pro Woche mit UMAs verbringen, die Freizeit gestalten, kochen», sagt Gabi Gratwohl, zusammen mit Susanne Klaus Co-Leiterin der UMA-Schule Aarau.

Projekthalbtage als Fenster zum gesellschaftlichen Rand

Sprechanlässe bietet auch das gemeinsame Mittagessen im Gemeinschaftszentrum Telli: Poulet, Gemüse, Reis. Die Projekthalbtage gehen heute weiter. Sie umfassen zwölf Module, bei denen die Klassen Gelegenheit haben, Menschen, Institutionen und Themen zu begegnen, die «in der gesellschaftlichen Wahrnehmung am Rande stehen oder tabuisiert werden». Konkret geht es um Behinderung, Sucht, Transgeschlechtlichkeit, psychische Krisen, Armut, Obdachlosigkeit, Flucht und Migration, Kriminalität, Krankheit und Tod.

Vor der Begegnung mit den UMAs liess sich die Halbklasse von der Arbeitsstelle Integration Aargau über die rechtliche Situation, die verschiedenen Status und deren Bedeutung, ins Bild setzen. Michele Puleo nahm Bezug auf die aktuelle Situation, Flüchtlinge aus der Ukraine, und die erstmalige Inkraftsetzung des Status S in der Flüchtlingspolitik. Eine komplexe Geschichte mit eigener politischer Dynamik.